Gütersloh Mundtot machen: Tönnies bringt Kritiker aus dem Kreis Gütersloh vor Gericht

Kreis Gütersloh. Es tut nicht gut, sich mit Tönnies anzulegen. In Rheda-Wiedenbrück weiß man das schon lange. Man hält besser den Mund und schweigt. Wer diesen Rat nicht beherzigt und Kritik am Konzern offen formuliert, dem ist meistens nur noch mit einem guten Anwalt zu helfen. Wenn überhaupt. Agenda Cutting nennt sich die Disziplin, ein unerwünschtes Thema wieder zum Verschwinden, also von der medialen Agenda zu bekommen. Das geht am besten, indem man lautstarke Kritiker mundtot macht, damit sie Ruhe geben und dem Unternehmen nicht länger im Wege stehen. Volker Brüggenjürgen zum Beispiel ist so einer, dem Tönnies wohl gerne einen Maulkorb verpassen würde. Er ist unfassbar lästig für den Konzern, denn der Rheda-Wiedenbrücker ist zum Hauptkritiker geworden. Schon seit mehreren Jahren prangert er in seiner Funktion als Caritas- Vorstand für den Kreis Gütersloh die Lebens- und Arbeitsbedingungen der südosteuropäischen Werkvertragsarbeiter an und macht das Leid dieser Menschen sichtbar, die aus ihren Heimatländern hierherkommen, weil sie für die Arbeit in der Fleischbranche angeworben werden. So richtig hingehört hat früher niemand. Seit dem so genannten Tönnies-Lockdown vor einem Jahr wird Brüggenjürgens Handynummer jedoch durch die bundesdeutschen Redaktionen gereicht. Viele hundert Presseanfragen und Interviews hat er seit dem Corona-Desaster bei Tönnies im Juni 2020 gegeben. Seine Stellungnahmen finden sich in Spiegel, FAZ, Süddeutsche. Eine Veröffentlichung wird ihm wohl jetzt zum Verhängnis Zum Verhängnis aber wird ihm womöglich eine eher belanglos erscheinende Veröffentlichung in der Westfalenpost. Das Blatt gehört zur Funke Mediengruppe. Die von Tönnies beauftragte Kanzlei Schertz Bergmann hat zugeschlagen. Volker Brüggenjürgen steht vor Gericht. Klägerin ist die Tönnies Holding ApS & Co.KG, die auf Unterlassung drängt. Die Legende von David gegen Goliath wird in diesen Tagen auf moderne Weise am Landgericht Essen fortgeschrieben. &bdquo;Die drei Männer leben in einem verkommenen, 15 Quadratmeter kleinen Zimmer, für das sie 960 Euro Miete zahlen müssen." Diesen Satz soll Volker Brüggenjürgen im Zusammenhang mit drei Tönnies-Werkvertragsarbeitern aus Bulgarien gegenüber einem Redakteur der Westfalenpost am Telefon gesagt haben. Der Satz wurde am 3. Juli 2020 veröffentlicht. Tags darauf auch von der Glocke und dem Haller Kreisblatt – jedoch in einem anderen Kontext. Tönnies meldet sich per Mail Am 7. Juli erkundigt sich Konzernsprecher André Vielstädte bei Brüggenjürgen per Mail, von welchem Subunternehmer hier wohl die Rede sei. Tönnies wolle sich umgehend um den Fall kümmern. Die Antwort des Caritas-Chefs findet sich im Corona-Faktencheck auf der Tönnies-Homepage für jedermann nachlesbar: &bdquo;Ich weiß nicht, wo Sie die Aussage herhaben, dass es sich um einen Ihrer Dienstleister gehandelt haben soll. In dem Gespräch mit der Glocke (andere Medienvertreter waren nicht zugegen) haben wir sehr klar gemacht, dass es sich um eine Werkvertragsbeschäftigung bei einem Logistiker in der Möbelbranche handelt. Außerdem hätten wir ja aufgrund der Quarantäne-Vorgaben überhaupt keine Wohnung von Tönnies-Beschäftigten betreten können." Lesen Sie auch: Es tut nicht gut, sich mit Tönnies anzulegen. In Rheda-Wiedenbrück weiß man das schon lange. Man hält besser den Mund und schweigt. Sie legt sich seit Jahren mit Tönnies an - eine Frau kämpft für mehr Menschlichkeit Die Vermutung liegt nahe, dass der Irrtum wohl in der Redaktion der Westfalenpost geschehen ist, der Redakteur einen Fehler begangen hat oder gar Textpassagen von heimischen Pressevertretern übernommen hat. Der Redakteur aber verteidigt sich und seinen Job und beteuert die Richtigkeit seiner Darstellung. Am 13. August erreicht Brüggenjürgen die Aufforderung der Kanzlei Schertz Bergmann, bis zum 17. August eine Unterlassungserklärung abzugeben. Ihm droht ein Ordnungsgeld von bis zu einer Viertel Million Euro &bdquo;Ich habe mich dazu entschieden, die Unterlassung nicht zu unterschreiben", am 3. September folgt deshalb Klage und Streitverkündung durch Tönnies. Sollte er unterliegen und die Behauptung ein weiteres Mal in Verbindung mit seinem Namen auftauchen, droht Brüggenjürgen ein Ordnungsgeld von bis zu einer Viertel Million Euro oder wahlweise bis zu sechs Monate Haft. Derzeit warten die Parteien auf das Urteil. &bdquo;Es geht darum, meine Glaubwürdigkeit als Hauptkritiker anzugreifen", mutmaßt Brüggenjürgen. &bdquo;Sollte ich verlieren, muss ich sämtliche Anwaltskosten durch alle Instanzen tragen", der Streitwert ist auf 10.000 Euro fixiert. &bdquo;Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht, es ist im vergangenen Jahr über mich hereingebrochen", sagt Brüggenjürgen, &bdquo;und es ist in meiner Funktion auch nicht meine Aufgabe, solche Prozesse zu führen." Promi-Medienanwalt mit dabei Zahllosen Medienvertretern habe er versucht, ihre Fragen zu beantworten. Sollte das jetzt abgestraft werden, macht es die Zusammenarbeit mit Medien unmöglich – oder nach seiner eigenen Einschätzung &bdquo;zumindest nicht ungefährlich für diejenigen, die die Dinge beim Namen nennen." Christian Schertz ist Promi-Medienanwalt für Günter Jauch, Herbert Grönemeyer oder Cristiano Ronaldo. Seine Berliner Kanzlei befindet sich am Kurfürstendamm 53. &bdquo;Schertz Bergmann ist der unbestrittene Marktführer im recht überschaubaren Segment des Agenda-Cutting. Also der Verhinderung und Einschüchterung kritischer Berichterstattung. Hier agieren bundesweit im Wesentlichen nur vier Kanzleien, deren Leitwolf bislang Christian Schertz war", so Elmar Wigand von der Aktion gegen Arbeitsunrecht. Sie lassen sich nicht einschüchtern Das Bündnis selbst ist an einem &bdquo;Schwarzen Freitag" im September 2019 in Rheda vor das Tönnies-Werk gezogen und hat auch schon Post von der Berliner Kanzlei bekommen. Untersagt wurde per Einstweiliger Verfügung die Berichterstattung der Protestler über &bdquo;systematischen Lohnraub", &bdquo;Kündigung nach Arbeitsunfällen" oder unerlaubte &bdquo;16-Stunden-Schichten" für Werkvertragsarbeitnehmer. Statt sich davon einschüchtern zu lassen, wird Vorfreude auf den Prozess verkündet: &bdquo;Wir machen ein Tribunal daraus!" Tönnies zieht die Klage später zurück. &bdquo;Die Auswirkung dieser Einstweilige-Verfügungs- und-Abmahn-Methode auf Gewerkschaftsapparate, Sender und Zeitungen ist nicht zu unterschätzen. Die Apparate pfeifen ihre Leute oft allzu bereitwillig zurück, wenn Figuren wie Christian Schertz ins Spiel kommen", lautet Wigands Einschätzung. Bundespolitiker wie Ralf Stegner (SPD) kommen qua Amt gut durch die Situation. Seine Spekulation im letzten Sommer bei Bild live über eine Haftstrafe für den Unternehmer Clemens Tönnies wegen Gesetzesbruch wird ebenfalls von Schertz Bergmann torpediert – erfolglos. Lesen Sie auch: Tönnies-Werkvertragsarbeiter packen aus: "Wir waren ständig in Gefahr" Auch andere bekommen Post vom Anwalt Lokalpolitiker wie Michael Pusch, Kreissprecher Die Linke, haben es schwerer. Pusch gehört zum &bdquo;Bündnis gegen die Tönnies-Erweiterung". Die Gruppe kämpft 2018 gegen die umstrittene Genehmigung des Kreises zur Ausweitung der Schlachtkapazität. Pusch schreibt Stellungnahmen für das Bündnis, die als Pressemitteilung an zahlreiche Medien versendet werden. Am 30. Oktober 2018 erhält er deshalb Post von Schertz Bergmann: &bdquo;Sie verantworten für das Bündnis gegen die Tönnies-Erweiterung eine Pressemeldung. Diese wurde unter anderem unter guetsel.de veröffentlicht. Hier schreiben Sie unter anderem: Aus Trinkwasser macht Tönnies Abwasser, belastet mit Chemikalien, Hormonen und Medikamenten. Das Klärwerk ist damit überfordert. Dies ist unzutreffend. (...) Unserer Mandantschaft stehen insofern Unterlassungsansprüche zu." "Natürlich hat man bei jeder weiteren Pressemittelung eine Schere im Kopf. Die Unbefangenheit ist angekratzt" Bis zum Folgetag, 31. Oktober, 18 Uhr, soll Michael Pusch eine Unterlassung zurücksenden und bestätigen, dass er einen solchen Satz nie mehr behauptet, veröffentlicht oder veröffentlichen lässt. &bdquo;Wir haben das im Bündnis durchdiskutiert", Pusch lässt sich anwaltlich beraten und unterzeichnet die Unterlassung. &bdquo;Die Schadenssumme hätte sonst ins Unermessliche gehen können", der Ingenieur und Linke-Sprecher zahlt 613 Euro an Schertz Bergmann und erkauft sich damit Ruhe. Die Bündnismitglieder sammeln reihum und erstatten Michael Pusch die Kosten von insgesamt rund 1.000 Euro. &bdquo;Natürlich hat man bei jeder weiteren Pressemitteilung eine Schere im Kopf", sagt Pusch, &bdquo;die Unbefangenheit ist angekratzt, wenn man solche Strafandrohungen im Hinterkopf hat. Wir sind ja alle keine Profis." Aber entschlossene Kämpfer. "Will man sich mit einem Multi-Milliarden-Konzern anlegen?" Und so wird der umstrittene Abwasser-Satz mit Hilfe von Anwalt Jasper Prigge umformuliert und am 30. Oktober 2018 geht ein Schreiben an Schertz Bergman mit folgenden Sätzen: &bdquo;Mein Mandant hat kein Interesse an einer rechtlichen Auseinandersetzung um eine Veröffentlichung auf einer Internetseite, im Mittelpunkt seiner Aktivitäten steht vielmehr die grundsätzliche Kritik an der Erweiterung der Produktion. Mein Mandant hat mir gegenüber geäußert, dass er sich mit dem von Ihrer Mandantin erhobenen Vorwurf nicht von seinen Aktivitäten ablenken lassen will." Das Bündnis gibt es noch. &bdquo;Wir sind an dem Thema immer noch dran", so Pusch. Wortgleiche Schreiben zur Unterlassung über angeblich verseuchtes Abwasser bekommt auch die Online-Zeitung Scharf-Links und der Gütersloher Christian Schröter von Gütsel. &bdquo;Will man sich mit einem Multi-Milliarden-Konzern anlegen?" Schröter akzeptiert und löscht vorsorglich sämtliche Texte vom Bündnis auf gütsel.de. Inge Bultschnieder kämpft bis heute Greenpeace hat eine Studie gemacht, deren Ergebnis seit wenigen Tagen bekannt ist. Demnach kann belegt werden, dass mit Abwässern aus Schlachthöfen antibiotikaresistente Keime direkt in die Umwelt gelangen. Dazu wurden Abwasserproben aus sieben Schlachtbetrieben aus drei Bundesländern analysiert. Unter anderem von Tönnies und Westfleisch. Letzterer reagiert auf die Studie mit den Worten: &bdquo;Nach dem heutigen Stand der Technik können multiresistente Keime in einer Abwasserbehandlungsanlage nicht vernichtet werden." Inge Bultschnieder von der Interessengemeinschaft WerkFAIRträge begleitet bis heute die aus Rumänien stammende Tönnies-Mitarbeiterin Mihaela C., die 2015 ihr Neugeborenes auf dem Parkplatz des Gütersloher Media-Marktes abgelegt hatte. Bultschnieder sagt in einem WDR-Interview am 16. Januar 2017, dass die Werkvertragsarbeiterinnen Angst hätten, schwanger zu werden, &bdquo;weil man dann seine Stelle verliert." "Das man ein Gefühl wie Angst überhaupt abmahnen darf, ist mir bis heute ein Rätsel" Das sei das Ergebnis zahlreicher Gespräche mit Arbeiterinnen sowie mit Mihaela C. selbst. Daraufhin erhält Bultschnieder erstmals Post von Schertz Bergmann. &bdquo;Dass man ein Gefühl wie Angst überhaupt abmahnen darf, ist mir bis heute ein Rätsel", sagt die Aktivistin aus Rheda-Wiedenbrück. &bdquo;Aber der Konzern kann mich bequem durch alle Instanzen klagen und das kann teuer werden für mich", sie zahlt deshalb 2.600 Euro, um die Sache vom Tisch zu kriegen. &bdquo;Wenn ich den Satz nicht mehr sagen darf, dann sollen ihn halt andere aussprechen." Er würde deshalb ja nicht aus der Welt verschwinden. Lesen Sie auch: Clemens Tönnies - vielleicht der derzeit meist gehasste Mann Alice Schwarzer überredet sie zur Veröffentlichung Im vergangenen Jahr dann titelt das Frauenmagazin Emma Ende Juni nach dem Corona-Ausbruch: &bdquo;Tönnies: Eine Frau hebt den Sumpf aus." In dem Online-Artikel gibt es gleich drei Zitate, die Tönnies augenscheinlich sauer aufstoßen. Bultschnieder erhält wieder Anwaltspost aus Berlin. Diesmal ist ihre Unterschrift womöglich nicht so wichtig. Der Grund: Die Emma-Redaktion rudert umgehend zurück und nimmt die umstrittenen Sätze ohne Rücksprache mit ihr aus dem Artikel. Auf die anschließende Version in der Print-Ausgabe hat Inge Bultschnieder deshalb keine Lust mehr. Herausgeberin Alice Schwarzer greift persönlich zum Telefon und überredet die junge Mutter aus Rheda-Wiedenbrück zur Veröffentlichung. &bdquo;Man überlegt sich inzwischen wirklich jedes Wort dreimal, um nicht in Gefahr zu kommen", so Bultschnieder. Im Gegenzug könne Clemens Tönnies in den Medien augenscheinlich ungestraft behaupten, was er wolle. Auch im Vorfeld erhalten Redaktionen mitunter Schreiben, die darauf aufmerksam machen, was alles drohen könnte Es sind eher Nichtigkeiten, die aufgespießt oder vielleicht gezielt gesucht werden, um Unterlassungsansprüche bei Kritikern geltend zu machen. Irgendetwas findet sich immer, was aus Sicht des Konzerns nicht zu 100 Prozent richtig dargestellt ist. Auch im Vorfeld von Berichterstattung und TV-Ausstrahlungen erhalten namhafte Redaktionen mitunter Schreiben, um – rein vorsorglich – darauf aufmerksam zu machen, was alles drohen könnte. &bdquo;Wir sind jederzeit bereit, uns mit Kritikern auszutauschen und das Gespräch zu suchen", erklärt Konzernsprecher André Vielstädte. Das gelte auch für Volker Brüggenjürgen, den er selber bereits durch das Werk geführt und das persönliche Gespräch geführt habe. Sobald es ein Urteil gibt, will sich Tönnies zum Fall Brüggenjürgen äußern &bdquo;Wogegen wir uns wehren, sind Falschaussagen und Lügen, gegen die wir im Zweifel auch gerichtlich vorgehen. Dies ist auch der Fall beim Prozess gegen Volker Brüggenjürgen." Sobald es ein Urteil gebe, werde man sich zum Fall äußern. &bdquo;Diese Methode sorgt ganz klar dafür, dass die Leute aufhören, etwas Kritisches zu sagen", Brüggenjürgen hat sich zwischenzeitlich die Frage gestellt, ob er sich aus der gesamten Thematik zurückzieht. &bdquo;Man ist ja nicht stabil mutig", sagt der vierfache Familienvater, &bdquo;außerdem will ich als Caritas-Vorstand nicht die Expertise der Fleischwirtschaft für die kommenden Jahre sein." Er macht trotzdem weiter. Viel Feind, viel Ehr! Brüggenjürgen schmunzelt über den alten Schlacht-Spruch und schüttelt zugleich den Kopf. &bdquo;Vielleicht", sagt er, &bdquo;aber wenn man mal ehrlich ist, steht man da im Grunde doch ganz alleine."

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