Gütersloh

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Gütersloher Laufcoach: "Sobald Corona vorbei ist, wird es virtuelle Läufe nicht mehr geben"

Für Ingmar Lundström endete das Jahr 2020 ohne eine seiner Lieblingsveranstaltungen. Der bekannteste heimische Läufer äußert sich zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf seinen Sport. Eine Sache tut dem 48-jährigen Gütersloher in der Seele weh

Finale: Den letzten Lauf des Jahres genoss Ingmar Lundström (r.) zusammen mit Andreas Norek zur üblichen Uhrzeit auf der Originalstrecke des Gütersloher Silvesterlaufs, der wegen der Corona-Pandemie abgesagt worden war. | © Jens Dünhölter

Wolfgang Temme
02.01.2021 | 02.01.2021, 17:06

Können Sie sich erinnern, wann für Sie das letzte Mal ein Jahr ohne den Gütersloher Silvesterlauf zu Ende ging?

Ingmar Lundström: Das war 2014, als wir mit der Familie Freunde in Emden besucht haben. Ich habe am dortigen Silvesterlauf teilgenommen und festgestellt, dass es komisch ist, anonym unterwegs zu sein. Aber ansonsten war ich seit 1992 bei fast jedem Gütersloher Silvesterlauf dabei. Einmal bin ich sogar in einen Skilanglauf-Urlaub mit Freunden in die Schweiz nachgereist, um in Gütersloh teilnehmen zu können.

Was macht für Sie den Reiz dieser Veranstaltung aus?

Lundström: Der Silvesterlauf lebt von seinem besonderen Geist. Es ist ein relativ entspannter Lauf, bei dem etwas anderes in der Luft liegt. Hier kommen die Leute zusammen, sie haben gerade ein schönes Weihnachtsfest erlebt und sind voller Zuversicht aufs neue Jahr – alle sind irgendwie positiv und das benetzt sich gegenseitig. Für viele ist das ein unverzichtbares Ritual. Ich muss wirklich sagen: Neben dem Hermannslauf ist der Gütersloher Silvesterlauf einer meiner absoluten Lieblingsläufe.

Der Post SV hat ihn für 2020 schon frühzeitig abgesagt.

Lundström: Das fand ich gut. Andere Veranstalter haben eine lange Hängepartie aus den Absagen gemacht und die Läufer hingehalten, obwohl eigentlich klar war, dass nichts stattfinden kann.

Hätten Sie sich gewünscht, dass der Post SV eine virtuelle Variante organisiert?

Lundström: Ich hätte es gut gefunden, denn die Voraussetzungen waren optimal. Man hätte sogar, mit Ausnahme des Zieleinlaufs auf dem gesperrten Kamphof, die Originalstrecke verwenden können, was nur sehr selten möglich ist. Viele hätten dann auf dem Weg an der Dalke und durch den Rhedaer Forst zumindest etwas vom Silvesterlauf-Feeling gehabt. Mag sein, dass der Post SV verzichtet hat, weil er Ansammlungen vermeiden und sich nicht angreifbar machen wollte.

Es gab ja virtuelle Läufe, und überall stießen sie auf große Resonanz. Ist es eine Errungenschaft im Corona-Jahr 2020, neue Wege für gemeinsames Laufen entdeckt zu haben?

Lundström: Das ist aus der Not heraus geboren. Aufgrund der Stimmung, die ich in der Läuferszene aufnehme, bin ich überzeugt: Sobald Corona vorbei ist, wird es virtuelle Läufe in der Form nicht mehr geben. Die Leute lechzen danach, wieder mit einer Startnummer auf der Brust gemeinsam mit anderen unter realen Bedingungen zu laufen und – das ist ein wesentlicher Aspekt – in Interaktion mit Zuschauern zu treten. Ich sehe es eher andersherum: Früher hat man gesagt, Läufer seien vor allem Einzelkämpfer und am liebsten alleine unterwegs. Eine Errungenschaft im Corona-Jahr 2020 war, dass die Leute dadurch, dass sie etwas unglaublich vermisst haben, gemerkt haben, wie sehr das Laufen eine Sache ist, die man gemeinsam erlebt. Dieses Kommunikative, dieses Come-together, ist ja auch gerade etwas, das den Silvesterlauf auszeichnet.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie darüber hinaus auf den Laufsport gehabt?

Lundström: Es gibt ganz viele Läufer, die neben der Gemeinschaft etwas anderes brauchen – ein Ziel. Und dieses Ziel ist vielen genommen worden. Nach der im März erfolgten Absage des Hermannslaufes habe ich zum Beispiel beobachtet, dass viele Läufer in ein Motivationsloch gefallen sind und teilweise wochenlang gar nichts mehr gemacht haben. Ohne dieses Ziel fehlte vielen der Zug zum Training. Ich kann das gut verstehen. Wenn ich 20, 25 oder in meiner Hermannslauf-Hochzeit gewesen wäre, wäre ich auch in mich zusammengefallen und hätte erstmal den Drive verloren. Selbst jetzt habe ich in der ganzen Zeit ein einziges Mal Intervalltraining gemacht und das auch noch nach der Hälfte abgebrochen, weil ich mir gesagt habe: Wozu soll ich das jetzt machen? Um irgendwann alleine durch den Lutterwald zu laufen?

»Mit einem blauen Auge durch die Krise manövriert«

Hat also Corona ein Heer von depressiven Läufern produziert?

Lundström: Natürlich nicht. Nach einer Phase der Enttäuschung haben viele auch gemerkt, dass sie mit viel mehr Gelassenheit laufen und mit mehr Freiheiten trainieren können. Ich zum Beispiel laufe für mein Leben gerne drei Stunden, und das habe ich nach der Absage des Hermanns mit meinem Freund Hermann Machner extrem ausgelebt.

Immerhin war Laufen eine Sportart, die – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – durchgängig möglich war.

Lundström: Das stimmt. Es wurde ja in den Phasen des Lockdowns schnell klar, dass Laufen etwas ist, was einem ein Stück Normalität zurück gibt. Wenn du die Laufschuhe anhast, deine Jacke anziehst, dein Cappy aufsetzt und auf deine Uhr drückst, dann ist das Leben ja scheinbar normal. In den Frühzeiten von Corona haben die Menschen das vielleicht noch nicht so begriffen, aber je länger das dauerte, haben sie gemerkt, dass Laufen eine Sache ist, in der man etwas Halt finden kann. Mag die ganze Pandemie auch bedrückend sein: Beim Laufen taucht man in eine andere Welt ein und ist wieder im realen Leben. Und: Laufen erdet. Vieles ist komplex und diffus, aber im Laufen findet man oft die Einfachheiten und Schönheiten des Lebens wieder.

Sie haben schon im ersten Lockdown angefangen, jeden Freitag ein Video von einem Ihrer läuferischen Ausflüge in den Sozialen Netzwerken zu posten. Welche Idee steckt dahinter?

Lundström: Ursprünglich ging es darum, die Leute während der ersten fünfeinhalb Wochen an den Laden zu binden, sie ein bisschen bei Laune zu halten und für das Laufen zu motivieren. Anfangs habe ich damit vielleicht 150 Menschen erreicht. Nach sechs Wochen habe ich dann gedacht, das war’s und habe einmal kein Video gepostet. Aber dann haben sich relativ viele gemeldet und gesagt, dass sie das Video vermissen. Also habe ich weitergemacht und habe mittlerweile großen Spaß daran gefunden – auch weil ich sehe, dass sich viele Läufer animiert fühlen, die Strecken nachzulaufen, Gegenden und Orte zu erkunden. Im Teutoburger Wald, wo ich die meisten Videos aufgenommen habe, gibt es einfach unheimlich viel zu entdecken.

Wie lange glauben Sie das noch machen zu müssen?

Lundström: So lange ich noch Themen habe – und die habe ich im Moment. Diese Corona-Geschichte wird uns nach meiner Einschätzung noch mindestens bis Spätsommer und Herbst begleiten. Mit den Videos, aber auch mit den Mails an meine Laufkurse, will ich den Leuten deswegen nicht einen Weg aus der Krise, sondern in der Krise aufzeigen.

Als Filialleiter eines auf Laufsport spezialisierten Geschäfts, das seine Türen zweimal schließen musste, haben Sie beruflich unter der Pandemie gelitten, oder?

Lundström: Nach dem Gespräch mit unserem Geschäftsführer Christian Bossow im März, bei dem ich das Formular für unbegrenzte Kurzarbeit unterschrieben habe, war die Stimmung schon auf dem Tiefpunkt. Der Handel lebt vom handeln, und ohne Umsatz ist es für jedes Geschäft existenzbedrohend. Und wir alle wussten ja nicht, wie sich das entwickeln würde. Zum Glück stellte sich heraus, dass wir doch den einen oder anderen Schuh und die eine oder andere Laufuhr verkaufen konnten. So schlimm, wie es andere Branchen getroffen hat, hat es uns nicht getroffen. Die vielen Neuanfänger haben sicherlich dazu beigetragen, das wir uns bisher mit einem blauen Auge durch die Krise manövriert haben.

Stichwort Laufuhr: Hat die Pandemie auch die „Digitalisierung des Laufens" forciert? Weil kein gemeinsames Laufen mehr möglich ist und weil gleichzeitig die Sozialen Netzwerke boomen, meint jeder, er müsste der ganzen Welt über eine App mitteilen, wann, wo und wie schnell er gelaufen ist?

Lundström: Das ist eine Tendenz, die sich schon vor Corona gezeigt hat. Tatsächlich scheinen manche jeden ihrer Schritte zu erfassen, zu dokumentieren und zu teilen.

Steht dieser Trend nicht dem Genuss entgegen und der Betonung von Körpergefühl und Sinneswahrnehmung?

Lundström: Da ist etwas dran. Ein Beispiel, auf welchem Trip viele Läufer teilweise sind: Innerhalb der Vorbereitung auf den Gütersloher DJK-Halbmarathon habe ich nach einem Intervalltraining eine junge Debütantin gefragt, wie es für sie gelaufen sei. Bevor sie geantwortet hat, hat sie auf ihre Uhr geschaut und mir nach Analyse der Werte mitgeteilt, es sei eine mittelharte Einheit gewesen. Ich habe sie dann gefragt, wie sie sich fühle, und sie hat gesagt, dass sie völlig ausgelaugt sei – das war eigentlich das, was für mich interessant war. Das gesunde Körpergefühl ist manchmal eben aussagekräftiger als irgendwelche Daten. Viele Läufer machen sich viel zu abhängig von dem, was ihre Laufuhr anzeigt . . .

. . . und nehmen gar nicht auf, wo sie sich bewegen und was um sie herum passiert?

Lundström: Deswegen weise ich die Teilnehmer bei meinen Ansprachen zu Beginn des Hermannslauftrainings regelmäßig darauf hin, die Sinne aufzuspalten und zu schärfen. Ich trichtere ihnen geradezu ein: Der Weg ist das Ziel, und schaut mal nach links oder rechts. Sonst müsste man ja nicht im Teuto laufen, sondern könnte auch auf der Kahlertstraße trainieren. Mein Eindruck ist, dass vor allem die geübten Läuferinnen und Läufer gerade in diesen Pandemiezeiten, wo es nicht so sehr auf ein hartes, zielgerichtetes Training ankommt, verstärkt zu schätzen wissen, was sie an natürlichen Gegebenheiten um sich herum aufnehmen können: Regen, Kälte, Licht, Jahreszeiten, Morgenstimmung, Landschaften und, und, und. Das alles kann man im Laufen extrem gut erleben. Und ich glaube sogar: Wenn man seinen Horizont auf diese Art und Weise erweitert und damit auch ein Stück Gelassenheit im Training umsetzt, wird man besser werden als Leute, die nur auf Leistung fokussiert sind und verstrahlt irgendwelchen Zeiten hinterherjagen.

»Immer wenn Geld im Spiel ist, wird es problematisch«

Was wird 2021 passieren? Haben die Läuferinnen und Läufer vielleicht gemerkt, dass sie an Ort und Zeit gebundene Veranstaltungen mit der damit verbundenen Hetze und Hektik gar nicht mehr unbedingt brauchen, zumindest nicht in der hierzulande üblichen Vielzahl? Oder wird es eine Rückkehr zum alten Maß geben?

Lundström: Ich glaube, dass die Menschen, die ohnehin schon eine Affinität zu Volksläufen hatten, das verstärkt ausleben werden. Läufe werden ja nicht nur gelaufen, die werden teilweise zelebriert. Veranstaltungen wie der Silvesterlauf, die Isselhorster Nacht oder der Christkindllauf sind gesellschaftliche Happenings geworden. Hier geht es allen ganz stark um Geselligkeit, und danach lechzen die Menschen. Und ich spüre, dass auch viele Hobbyläufer danach lechzen, sich endlich mal wieder, beflügelt von einem stimmungsvollen Rahmen, auszubelasten. Unsicher bin ich, wie sich die vielen Neueinsteiger verhalten. Insgesamt wird die Laufszene nach der Pandemie auf jeden Fall gut dastehen.

Fixpunkt für viele Läufer war immer der schon 2020 ausgefallene Hermannslauf . . .

Lundström: Mein Baby . . .

Glauben Sie, dass er 2021 stattfindet?

Lundström: Bei aller Liebe – nein. Ich würde mich natürlich freuen, wenn doch irgendwie das Wunder geschieht und wir plötzlich Mitte Februar einen Inzidenzwert von Null haben. Aber selbst dann: Der TSVE Bielefeld benötigt Vorlaufzeit. Und die Frage ist auch: Wer soll dann Ende April überhaupt laufen? Manche trainieren sicher trotz Pandemie so viel, dass sie problemlos ein so lange Strecke laufen könnten. Aber zwei Drittel der Teilnehmer brauchen eine gezielte Vorbereitung von mindestens vier oder fünf Monaten. Und ist dem TSVE damit gedient, wenn nur 3.000 Teilnehmer an den Start gehen? Ich bin mir also ziemlich sicher, dass der Hermannslauf 2021 nicht stattfinden wird.

Der Veranstalter hält sich die Option aber offen.

Lundström: Ich hätte mir gewünscht, dass man innovativ denkt und eine Verschiebung in den Oktober in Erwägung zieht. Aber leider haben die Organisatoren da eiskalt abgeblockt. Ich bin mir ganz sicher, dass es eine Nische gegeben hätte, wo im Umkreis kein anderer Lauf gewesen wäre. Das nicht zu tun und den Hermannslauf, der für viele Menschen ein emotionales Monument darstellt, gegebenfalls ein zweites Mal ausfallen zu lassen, ist schon ein hartes Stück. Das tut mir in der Seele weh.

Hat es von Veranstalterseite aus irgendwann mal den Versuch gegeben, „Experten-Meinungen" zu der Frage einzuholen, wie mit dem Hermannslauf 2021 verfahren werden sollte?

Lundström: So weit ich weiß, gab es das nicht. Es gab Überlegungen von Rudi Ostermann, einem der bisher Verantwortlichen, zum Jubiläum „50 Jahre Hermannslauf", das normalerweise 2021 gefeiert worden wäre, etwas mit bestimmten Leuten, die den Lauf geprägt haben, auf die Beine zu stellen. Vielleicht auch etwas Innovatives. Dazu wäre ich gerne bereit gewesen.

Als Sieger von 1999 und als jahrelanger Coach von Vorbereitungskursen sind Sie eng mit dem Hermannslauf verbunden. Wie beurteilen Sie die kürzlich publik gewordenen Veränderungen?im?Organisationsteam?

Lundström: Vielleicht werden durch die beiden neuen Leute an der Spitze, die ich bislang nicht kannte, gewisse Abläufe und Strukturen professioneller. Ich weiß aber gar nicht genau, was die vorhaben. Vielleicht haben sie ja Ideen, die dazu führen, dass der Hermannslauf noch besser wird. Ich hoffe nur, dass der familiäre Charakter der Veranstaltung erhalten bleibt und der Kreis derer, die im Hintergrund mit ganz viel Herzblut ehrenamtlich arbeiten, weiterhin gepflegt wird. Immer wenn Geld im Spiel ist, wird es problematisch.

Was ist die größere Gefahr für den Hermannslauf: Eine Kommerzialisierung der Veranstaltung oder das Waldsterben im Teuto?

Lundström: Der Teutoburger Wald ist natürlich in einem schlimmen Zustand. Am Denkmal selbst steht fast kein Baum mehr, in der Stapellager Schlucht auch nicht. Und würden alle toten Bäume weggeholzt, könnte man den Hermannslauf vom Berliner Platz aus verfolgen. Aber ich bin mir sicher, dass sich der Wald regenerieren wird, und es passiert ja auch eine Menge, um das zu unterstützen. Es wird allerdings noch Jahrzehnte dauern, bis man vom Denkmal bis zur Sparrenburg wieder komplett durch richtigen Wald laufen kann – ich glaube, das werde ich nicht mehr erleben. Dennoch: Eher ist die Kommerzialisierung eine Gefahr für den Hermannslauf.

Zurück zum Silvesterlauf 2020. Den haben Sie auf der Originalstrecke absolviert. Wie lief’s?

Lundström: Sehr angenehm. Ich war zusammen mit Andy Norek unterwegs. Wir haben es locker angehen lassen und waren nach 49:32 Minuten wieder am Kamphof. Auf den zehn Kilometern haben wir viele Erlebnisse von den vergangenen Silvesterläufen Revue passieren lassen.