Albtraum Kinderverschickung: „Was dort stattfand, war Misshandlung"

Gütersloh. &bdquo;Mit der Kinderlandverschickung ging der Drill richtig los", sagt Tassilo Hardung. 1943 setzte ihn seine Mutter am Hauptbahnhof Gütersloh ab, damit er mit dem Zug eine Erholungsreise antreten konnte. Hardung war gerade acht Jahre alt. Sechs Wochen verbrachte er unbegleitet in einem Herrenhaus in den Niederlanden. &bdquo;Den Ort kenne ich nicht mehr", aber die Erinnerung daran ist geblieben. &bdquo;Wir waren untergebracht in einem Schlafsaal mit etwa 30 Feldbetten." Der Tag begann mit Frühsport und Liegestützen. &bdquo;Wer konnte denn schon Liegestütze in dem Alter", fragt Hardung. Die Kinder seien erwartungsgemäß nach der dritten Übung zusammengebrochen, &bdquo;dann aber wurden sie regelrecht getreten und mussten weitermachen." Es herrschte absolutes Redeverbot Statt Fürsorge erlebten die Kinder von den Erwachsenen in der Fremde Schläge und Erniedrigung. &bdquo;Im Schlafraum herrschte absolutes Redeverbot", erklärt der heute 85-Jährige. Einmal wurde Hardung verpfiffen, weil er bei der zweistündigen Mittagspause gesprochen hatte. &bdquo;Ich musste mich zur Strafe mit meiner Bettdecke auf eine steile Treppenstufe einer Wendeltreppe legen. &bdquo;Hätte ich mich bewegt, wäre ich ernsthaft tief abgestürzt." Wer den Kommandos nicht folgte, erlebte auch körperliche Sanktionen. &bdquo;Aufs Bett legen, Po nach oben und los. Jedes Kind im Schlafsaal musste beim Kameraden zuschlagen." Die &bdquo;Erzieherinnen" kontrollierten, dass die Schläge auch wirklich fest genug waren. &bdquo;Ich erinnere mich an einen Jungen, der nach dem zehnten Schlag vor Schmerzen schrie und starkes Nasenbluten bekam. Aber wir mussten trotzdem alle weiter machen. Sein ganzes Kopfkissen war rot vor Blut. Ein schreckliches Bild." Was er ausgefressen hatte? Vielleicht im Schlafsaal geredet. "Es war traumatisch" Was der Gütersloher Lokalpolitiker Tassilo Hardung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs erlebt hat, ist kein Einzelschicksal. &bdquo;Als Fahrlehrer begegne ich vielen Menschen und führe unzählige Gespräche." Immer wieder sei er im Laufe der Jahre auf Gleichgesinnte gestoßen, die von ähnlichen Erlebnissen berichteten. Was im Krieg als Kinderlandverschickung begann, wurde in den folgenden Jahren als so genannte Kinderverschickung oder Kinderkur bis in die 80er Jahre fortgeführt. Die Zeiten wurden moderner, die Maßnahmen nicht. &bdquo;Sechs Wochen Villingen/Schwenningen, es war traumatisch", sagt Jürgen D. aus Gütersloh. Elke D. aus Gütersloh sagt: &bdquo;Meine Eltern haben es sicher nur gut gemeint. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht. Und wenn ich den Namen des Ortes höre, habe ich das alles wieder vor Augen!" Alle anderen konnten sehen, wer bestraft wurde Regine M. erinnert sich, dass sie als Siebenjährige in den 60er Jahren verschickt wurde weil sie etwas zu &bdquo;moppelig" war. &bdquo;Zu den Osterfeiertagen schickten mir meine Eltern ein Paket mit Süßigkeiten ins Kurheim." Die Erzieherin öffnete es vor Regines Augen, nahm das Schoko-Ei heraus und aß es auf mit den Worten: &bdquo;Du bist sowieso zu dick!" Ralf G. aus Gütersloh berichtet, dass er 1970 mit acht Jahren alleine im Schwarzwald in Waldshut in der Kinderkur war. &bdquo;Ich erinnere mich an die Strafen für morgendliche Unruhe. Wenn wir Kinder morgens bei der Toilette etwas wild waren, wurde &bdquo;Zappelfieber" gemessen. Zu diesem Zweck mussten wir zehn Minuten auf dem Bauch liegen und das Thermometer..." Alle anderen Kinder konnten sehen, wer nun bestraft wurde. Es gibt eine erste empirische Untersuchung Es gab fast 900 Erholungs- und Kurheime, allein im alten Westdeutschland. Das Nachrichtenmagazin Report Mainz hat im vergangenen Jahr Betroffene zu Wort kommen lassen und einen Bericht über die Kur-Kinder ausgestrahlt. Die Reaktion war überwältigend, die Kommentarleiste des Senders wurde überflutet. Seither ist einiges in Bewegung gekommen. Eine erste empirische Untersuchung, im Auftrag der Sendung Report Mainz, nach Grobauswertung von 1.000 öffentlich zugänglichen Kommentaren, kam zu folgendem Ergebnis: 94 Prozent der ehemaligen Kur-Kinder bewerten ihre Kur negativ. 67 Prozent von ihnen geben an, Bestrafungen erlebt zu haben. 64 Prozent von ihnen bewerten das Verhalten der &bdquo;Tanten" (Erzieherinnen) negativ. Körperliche und seelische Folgen 90 Prozent von ihnen schildern körperliche und seelische Kurzzeitfolgen. Das betrifft Störungen des Leistungs- und Sozialverhaltens. Das betrifft ferner Angststörungen, depressive Verstimmungen bis hin zu suizidalen Absichten. 61 Prozent von ihnen geben an, noch heute unter den Vorfällen während der Kur zu leiden. Von 1922 bis 1983 betrieb auch die Kommune Bielefeld ein Kinderkurheim auf Norderney. Wie die NW Bielefeld berichtete, geschahen in der Einrichtung teilweise grausame Dinge mit den Mädchen und Jungen. "Was dort hinter verschlossenen Türen stattfand, war eindeutig Kindes-Misshandlung" Dutzende ehemals &bdquo;Verschickte" haben sich mittlerweile gemeldet und ihre Erlebnisse geschildert wie etwa Stefan J.: &bdquo;Was dort hinter verschlossenen Türen stattfand, war eindeutig Kindes-Misshandlung. Dort galt: Was uns nicht umbringt, macht uns härter. Wenn ich daran zurück denke, sehe ich das Camp als logischen Nachfolger der Hitlerjugend-Lager. Wer aus der Reihe tanzte, wurde vor der ganzen Gruppe lächerlich gemacht und umgehend bestraft. Zucht und Ordnung über alles. Warum haben die meisten Eltern selbst im Nachhinein so wenig oder überhaupt nichts gehört? Das wurde mir viel später klar: Angst. Das Vertrauen in die Eltern ist erschüttert. Die haben mich dort hin geschickt und allein gelassen." Das Ziel: Endlich Gehör finden! Inzwischen hat sich die &bdquo;Initiative Verschickungskinder" gegründet. Vernetzungstreffen finden statt, eine Facebook-Seite ist eingerichtet, um Erfahrungen und Erinnerungen auszutauschen. Im November gab es einen ersten Kongress auf Sylt, dort wurde von über 70 Betroffenen beschlossen, die Erforschung der Zusammenhänge, Ursachen und Folgen von Verschickungen in die eigenen Hände zu nehmen, dazu wurde ein Forschungsverein gegründet. Ziel ist es, das Thema professionell aufzuarbeiten und Gehör zu finden – ähnlich der Missbrauchsfälle in Kinderheimen. Vor zwei Wochen griff der Landtag Schleswig-Holstein das Thema auf. Die Initiative berichtet, dass sich in der letzten Zeit die Berichte mehren über illegale Medikamentenversuche in Heimen und medizinischen Einrichtungen auch nach 1945. &bdquo;Auch bei Verschickungs- und Kurkindern sind solche Medikamentenversuche vorgekommen. Diese hat der Euthanasie-Gutachter Werner Catel noch nach 1945 veröffentlicht, dabei sind auch Kinder zu Tode gekommen." Warum sprechen sie erste jetzt über das Erlebte? Bleibt dennoch die Frage, warum die Betroffenen erst nach mehreren Jahrzehnten bereit sind, jetzt über das Erlebte zu berichten? Der Bielefelder Pädagoge und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Klaus Riedel erklärt: &bdquo;Ohnmacht und Sprachlosigkeit werden zementiert, wenn die Handlungen mit scham- oder schuldbesetzten Themen zusammenhängen. Wenn das Kind sich also schuldig fühlt oder schämt, etwas falsch gemacht zu haben, wird es sich nicht offenbaren und mitteilen, sondern wird sich eher weiter zurückziehen und isolieren." Die traumatischen Erlebnisse werden irgendwann abgespalten. &bdquo;Ein immerwährendes Erinnern würde zu psychischem Leiden führen, was oftmals nicht aushaltbar ist." Daher reagiert die menschliche Psyche hier ganz &bdquo;klug" mit Verdrängung, Abspaltung, Verleugnung, wie Riedel erklärt. &bdquo; Somit kann ein Teil der Persönlichkeit wieder seinen ganz normalen Alltagsbeschäftigungen nachgehen." Wenn jedoch Auslösereize – sogenannte &bdquo;Trigger" – auftauchen, etwa in einem Spielfilm ein Schlafsaal, oder Geruch von Putzmittel, können diese wie Blitzlichter im Gehirn die verdrängten Erlebnisse aufflammen lassen. Angst, Panik, Ohnmacht &bdquo;Es entsteht dieselbe Angst, Panik, Ohnmacht, die in der früheren Kindheit existent war." Außerdem: Kinder, die zu früh von ihren sich gut um sie sorgenden Eltern getrennt werden wie auf den früheren &bdquo;Verschickungen" sind gefährdet, ihr Vertrauen in nahestehende Bezugspersonen zu verlieren oder dieses gar nicht erst aufbauen zu können. &bdquo;Ich habe versucht zu leisten, was von mir verlangt wurde", erinnert sich Tassilo Hardung an seine Zeit in der Kinderlandverschickung. &bdquo;Vielleicht habe ich deshalb das Gefühl, dass ich nicht verbogen wiedergekommen bin." 1950 ist Hardung im Alter von 15 Jahren wieder verschickt worden. Dieses Mal in ein Kurheim auf Sylt. &bdquo;Es hat sich besser angefühlt." * Haben Sie auch Erfahrungen als &bdquo;Verschickungskind" gemacht? Wir freuen uns über Ihre Berichte: NW Redaktion, Münsterstraße 46, 33330 Gütersloh oder per Mail: guetersloh@nw.de

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