Blick auf Arbeitsbedingungen: Film über Tönnies-Leiharbeiter ausgezeichnet

Gütersloh. Die Fleischerzeugung in deutschen Ställen, Schlachtereien und Verarbeitungsbetrieben böte sicherlich reichlich Stoff für große Dramen. Beim 41. Filmfestival Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken ist am Sonntag allerdings ein leiser Dokumentarfilm als bester dieses Genres ausgezeichnet worden: In &bdquo;Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit" schaut die in München lebende Regisseurin Yulia Lokshina auf die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitskräften in der ostwestfälischen Schlachtindustrie, darunter auch bei Tönnies, Deutschlands größtem Schweineschlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück. Yulia Lokshinas Blick fokussiert sich allerdings nicht primär auf Tönnies. &bdquo;Die ostwestfälische Fleischindustrie ist für uns eine Stellvertreterin, ähnliche Probleme gibt es ja auch in anderen Orten und auch in anderen Wirtschaftsbereichen. Das ist ja kein alleiniges Problem von Rheda-Wiedenbrück", so die Filmautorin. "Es ging mir nicht nur um die Beziehung von Leidtragenden und Verantwortlichen, zu denen Menschen, die nicht davon betroffen sind, kein Verhältnis haben, sondern es ist eine gesamtgesellschaftliches Frage, die wir uns alle stellen müssen: Wie organisieren wir unser Leben mit all den privilegierten und weniger privilegierten Gruppen?" Aus bloßen Zahlen werden für die Zuschauer Schicksale Und sie stellt klar: &bdquo;Das ist kein investigativer Film, der etwas aufgedeckt hat. Die Fakten sind alle bekannt. Die Begegnung mit den Leuten, die es betrifft, hat es in dieser Form aber noch nicht gegeben." Aus bloßen Zahlen werden so für die Zuschauer Schicksale. Gegengeschnitten wird die zwischen 2017 und 2019 gefilmte Lebensrealität der Leiharbeiter mit den Proben einer Theatergruppe eines Münchner Gymnasiums, das Bertolt Brechts &bdquo;Die heilige Johanna der Schlachthöfe" einstudiert. Auf diese Weise waren die Schüler aufgefordert, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ihre Äußerungen in dem Film sieht die Regisseurin als stellvertretend für die Gesellschaft. &bdquo;Man hört ja davon, aber man hat ja keine wirkliche Vorstellung wie schlimm das tatsächlich ist", sagt ein Schüler in dem Film. Und bringt damit wohl eine Einschätzung auf den Punkt, die viele Menschen teilen. Inge Bultschneider hat die Kontakte zu vielen Leiharbeiterin hergestellt Große Unterstützung hat die Filmemacherin in Rheda-Wiedenbrück vor allem von Inge Bultschnieder erfahren, die sich in der Interessengemeinschaft &bdquo;WerkFAIRträge" zugunsten von Werkvertragsarbeitern engagiert. Sie hat auch die Kontakte zu vielen Leiharbeitern hergestellt, die ihre Lebensgeschichte in dem Film erzählen. Denn nicht nur sprachliche Barrieren gab es zu überwinden. &bdquo;Es gab auch Hürden, die aus Angst und aus Scham über die Lebenssituation bestehen", so Lokshina. &bdquo;Da muss man sehr sensibel sein und den privaten Raum respektieren und schützen und diesen Menschen erklären, war um man sich auf einmal für sie interessiert." Beim Rosenmontagszug gehen Aktivisten im Schweinekostüm mit Zu diesen Menschen gehört auch eine Rumänin, die ihr Baby direkt nach der Geburt ausgesetzt hatte und zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden war. Bultschnieder kümmert sich bis heute um die Frau, die sich im offenen Vollzug am Wochenende bei ihr aufhält. Auch Szenen von einer Podiumsdiskussion in Rheda, an der unter anderem auch der CDU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Ralph Brinkhaus teilnimmt, sowie Aufnahmen vom Rosenmontagszug in Rheda-Wiedenbrück, bei dem Aktivisten in Schweinekostüm gegen die Arbeitsbedingungen protestierten, sind im Film zu sehen. Auch mit dem Plakat, mit dem die Aktivisten damals protestierten: &bdquo;Europas größte Schweinerei" stand darauf. Späer wurde das Plakatschild vom Rosenmontagskomitee einbehalten &bdquo;Weil Politik im Karneval nichts verloren habe", erinnert sich Inge Bultschnieder an die Begründung. "Bei der Erstaufführung des Films haben viele geweint" &bdquo;Der Film ist ganz anders, als ich erwartet habe, er ist sehr berührend", sagt Bultschnieder, die die interne Aufführung für die am Film Beteiligten in München besucht hat. &bdquo;Selbst ich, die die Thematik sehr gut kennt, war teilweise sehr angefasst. Ich habe mich dann im Kino umgeschaut. Da haben ganz viele geweint." Die Jury in Saarbrücken urteilt: &bdquo;Feinfühlig, vom ersten Moment an fesselnd und vielschichtig öffnet der Film den Blick für ein großes Problem unserer Gesellschaft. Die beklagenswerte Zeitlosigkeit des kapitalistischen Ausbeutungssystems manifestiert sich auch mitten in unserer Gesellschaft. Ohne zu predigen setzt der Film auf Beobachtung, Empathie und intellektuelle Durchdringung der Thematik. Durch seine filmische Versuchsanordnung gelingt der Regisseurin ein ganz eigener Zugang, der das Publikum aufgewühlt zurücklässt. Jetzt geht die Regisseurin mit dem Film in die Kinos Für Yulia Lokshina war &bdquo;Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit" der Diplomfilm, mit der die 1986 in Moskau geborene Autorin ihr Studium an der der Hochschule für Film in München abschloss. Doch abgeschlossen ist für sie das Thema noch nicht. Denn nun wird sie mit den Film in die Kinos gehen, um auch mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die von der Thematik nicht direkt betroffen sind und mit ihnen Fragen zu diskutieren, die in Beziehung zum Thema stehen: Fragen zur sozialen Gerechtigkeit, zu Migration, zu Abhängigkeitsverhältnissen, zur Schulbildung. Und auch darüber, wie Medien über dieses Thema berichten, weil sie es wichtig findet, darüber nachzudenken, wie sinnvoll es ist, &bdquo;ein schnelles und lautes Gespräch" über komplexe Probleme zu führen. Auch Vorführungen in der Region sind angedacht, Gespräche müssen allerdings noch geführt werden. Das Bambikino bietet sich allerdings an. Nicht nur, weil man dort dem Dokumentarfilm generell einen großen Raum bietet. Sondern weil Kinobetreiber Oliver Groteheide sich dann selbst auf der Leinwand sehen können: als Aktivist im Schweinekostüm.

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