Gütersloh. Zunächst erscheint die Geschichte ziemlich skurril, doch auf den zweiten Blick stimmt sie eher nachdenklich, ja traurig. Der 30-jährige Gütersloher Holger L. (Name von der Redaktion geändert) wurde in Südfrankreich zu einem Jahr Haft verurteilt; unter anderem, weil er zuvor seine Gefängniszelle demoliert und - wie französische Zeitungen berichten - "wie Rambo" in Brand gesetzt hatte.
Das Tragische daran: Offenbar leidet der junge Mann, den seine Eltern seit über zwei Monaten nicht mehr gesehen haben, an einer psychischen Krankheit. Momentan setzt der Gütersloher Rechtsanwalt Peter Oberwetter deshalb alles daran, dass der 30-Jährige nach Deutschland überstellt wird.
Bis zum Herbst vergangenen Jahres deutet nichts darauf hin, dass der mittlerweile Inhaftierte einmal auffällig, geschweige denn kriminell werden könnte - das Gegenteil ist der Fall. Der in Verl geborene L. absolviert nach der Fachoberschulreife eine Lehre zum Zerspanungsmechaniker und arbeitet anschließend bei Claas, wo er sich zum Industriemeister weiterbildet und von 2013 bis 2014 sogar in der indischen Niederlassung des Erntemaschinenherstellers eingesetzt wird. Eine ansehnliche Karriere.
Erste Anzeichen auf eine bipolare Störung
Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 sei es dann erstmals zu Aktivitäten gekommen, die auf eine psychische Veränderung zurückzuführen sein könnten, sagt Anwalt Oberwetter: "Er kaufte eine Eigentumswohnung - was noch nichts heißen muss. Danach gründete er eine GmbH und erwarb teure Maschinen, für die er sich verschuldete." Schon dies, so der Jurist, deute auf eine bipolare Störung hin, die Ärzte dem 30-Jährigen später auch attestierten.
Am 11. Dezember fuhr Holger L. mit seinem Auto nach Belgien, wo er in einen Verkehrsunfall verwickelt war. "Außerdem soll er in Lüttich ein Paket abgelegt und sich danebengestellt haben, um abzuwarten, wie lange die Polizei für ihr Erscheinen benötigt", berichtet Oberwetter, der mit deutschen Botschaften und den Eltern des Inhaftierten in Kontakt steht.
Später habe der Gütersloher in Belgien dann offenbar einen Gefahrguttransporter entwendet, fährt der Jurist fort: "Dabei soll er mit dem Lkw mehrere Kilometer nur auf den Felgen gefahren sein, nachdem die Polizei die Reifen zerstört hatte. Danach wurde er festgenommen; es folgte eine Verlegung in eine psychiatrische Klinik."
"Größenwahn", "anarchischem Verhalten", "Verweigerung der Pflege"
Der Diagnosebericht, der Oberwetter vorliegt, lässt keine Zweifel an einer Erkrankung: Die belgischen Ärzte erkannten bei dem 30-Jährigen eine bipolare Störung mit manischen Symptomen. Von "einer Gefahr für sich selbst und andere" ist in dem Bericht ebenso zu lesen wie von "Größenwahn", "anarchischem Verhalten" oder der "Verweigerung der Pflege". Deshalb sollte der Patient nach Ansicht der Mediziner zu einer speziellen Behandlung in eine andere Klinik verlegt werden.
Doch dazu kam es nicht. Bereits nach zwei Tagen, so der Rechtsanwalt, sei Holger L. - nur mit einem Schlafanzug bekleidet - aus dem Krankenhaus geflohen und habe sich bis nach Trier durchgeschlagen, wo er von der Caritas eine Bahnfahrkarte nach Gütersloh erhielt.
Aber auch in seiner Heimatstadt habe es ihn nicht lange gehalten: "Hier blieb er nur fünf Tage. Dann mietete er sich einen Auto, fuhr nach Frankreich und meldete sich aus Paris telefonisch bei seinen Eltern." Noch ein weiteres Mal habe Holger L. zu Hause angerufen - diesmal wohl aus Monaco. Anschließend hörten die Eltern nichts mehr von ihrem Sohn und meldeten ihn als vermisst.
Versuch, die Zelle in Brand zu setzen
Dank der Vermittlung der deutschen Botschaft in Paris und des Generalkonsulats in Marseille erfuhren die Eltern im Januar schließlich, dass L. am 27. Dezember im südfranzösischen Salon-de-Provence ein Auto stahl, festgenommen und ins Untersuchungsgefängnis nach Avignon gebracht wurde.
Der Untersuchungsrichter habe dann, so Oberwetter, ein psychiatrisches Gutachten eingeholt, worin dem 30-Jährigen volle Schuldfähigkeit attestiert wurde. Für den Gütersloher Jurist eine nicht nachvollziehbare Entscheidung: "Das ist schon sehr, sehr irritierend; auch der französische Pflichtverteidiger kann das nicht verstehen. Vermutlich weiß man in Frankreich nichts von dem Attest der belgischen Ärzte."
Im Gefängnis, das berichten zwei südfranzösische Zeitungen später, habe L. am 4. Januar zunächst die Zelle demoliert und sechs Tage später versucht, sie mit einem Küchentuch in Brand zu setzen, worauf er dann doch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Von dort soll er - erneut nur mit einem Schlafanzug bekleidet - bei einem letztlich missglückten Fluchtversuch aus dem dritten Stock in einen Baum gesprungen sein.
Claas hat dem Mann fristlos gekündigt
Nur eine Woche später sei es laut Oberwetter deshalb zu einem Schnellverfahren gekommen: "Dabei wurde der junge Mann zu einem Jahr Haft verurteilt - acht Monate wegen der Beschädigungen in seiner Zelle und vier Monate wegen der Flucht."
In ihren Artikeln über die Verhandlung berichten die französischen Medien, der Gütersloher habe vor Gericht gesungen und sich darüber beschwert, im Gefängnis mit Steinen beworfen zu werden. Sein Pflichtverteidiger habe zudem angegeben, sein Mandant sei der einzige deutsche Gefangene und würde behandelt wie Adolf Hitler.
Inzwischen hat die Firma Claas Holger L. fristlos gekündigt, wogegen Oberwetter juristisch vorgeht, da sein Mandant zwar seit Mitte Dezember nicht mehr bei der Arbeit erschienen sei - dies aber aufgrund der Krankheit. "Und diese Erkrankung ist mittels Medikamenten so behandelbar, dass er in seinem Arbeitsbereich wieder voll arbeitsfähig sein wird."
Besonders wichtig ist dem Rechtsanwalt, der die Sorgen der Eltern nur zu gut kennt, eine Rückkehr des 30-Jährigen nach Deutschland: "Es besteht die Möglichkeit, dass ausländische Urteile hier verbüßt werden; das könnte zum Beispiel in einem Justizkrankenhaus sein. Der erste Schritt müsste aber von ihm ausgehen, indem er die Überstellung selbst beantragt." Denn laut französischem Gutachten ist Holger L. ja voll schuldfähig - und somit wohl auch für seine Entscheidungen selbst verantwortlich.