Gütersloh. Erich Heinrich Rahe hat unglaublich viel erlebt - und das nicht nur, weil der Gütersloher auf fast 91 Lebensjahre zurückblickt. 1925 geboren, war Rahe zunächst glühender Anhänger Hitlers und schon als junger Mann Mitglied der Waffen-SS. Er erkannte jedoch die Unmenschlichkeit des NS-Regimes - und kämpfte seit dem auf Seiten der italienischen Partisanen gegen Nazis und Faschisten.
Seither sind sieben Jahrzehnte, ein ganzes Menschenleben, vergangen. Doch vergessen haben die Italiener den Deutschen nicht: Aus Anlass des 70. Jahrestages des Befreiungskampfes wurde Rahe unlängst mit einer Medaille und einer Urkunde ausgezeichnet - unterschrieben von der italienischen Verteidigungsministerin Roberta Pinotti. Somit dürfte der Gütersloher nicht nur einer der wenigen Deutschen sein, denen diese Ehre zuteil wurde, sondern auch einer der letzten lebenden Zeitzeugen der Widerstandsbewegung in den italienischen Bergen.
Die Wurzeln Erich Heinrich Rahes liegen in Oesterweg, wo der Opa einen Bauernhof besaß; doch Rahes Vater zog früh nach Bochum, um dort als Bergmann sein Geld zu verdienen und eine Familie zu gründen. Sohn Erich Heinrich verbrachte im Ruhrgebiet eine typische Kindheit: Zunächst war er Mitglied des Jungvolkes, danach in der Hitler-Jugend. "Ich war von dem System begeistert", will der 90-Jährige auch heute nichts beschönigen und erinnert sich noch genau an seine kindliche Begeisterung für alles Soldatische: "Mein Onkel war Marine-Offizier im Ersten Weltkrieg und mein Vorbild. Wenn ich an Schaufenstern vorbeikam, habe ich immer nachgeguckt, ob ich gerade gehe."
Nach der Volksschule absolvierte Erich Heinrich Rahe in Versmold eine Lehre als Huf- und Wagenschmied. Dabei wurde stattliche junge Mann gefragt, ob er denn nicht zur SS wolle - und fand Gefallen an diesem Gedanken. Nach der Ausbildung, Rahe war erst 17 Jahre alt, meldete er sich im Oktober 1942 freiwillig zur Waffen-SS und gelangte ab Februar 1943 über Stationen in Deutschland sowie in Ostpreußen, Jugoslawien, Österreich und Rumänien schließlich in die ungarische Stadt Debrecen. Dort wurde seine SS-Divison für den Einsatz in Russland und in Italien geteilt - und dort hatte Rahe auch ein einschneidendes Erlebnis: "Ich sah zum ersten Mal, wie Juden in Viehwaggons verladen wurden." Ein Ereignis, das ihm für immer im Gedächtnis bleiben sollte.
Als Mitglied der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" wurde Rahe 1944 an die italienische Front in der Toskana, nahe der Stadt Livorno, versetzt. Dort hörte er im Sommer vom Attentat auf Hitler. Aber nicht nur das: "Es wurde erzählt, dass ganze Dörfer in Italien liquidiert, Frauen und Kinder erschossen wurden. Überwiegend von der Waffen-SS. Außerdem nahmen die Deutschen der Bevölkerung Pferde, Rinder, Schafe weg, so dass die Menschen fast verhungerten." Die Welt des Erich Heinrich Rahe brach zusammen. "Zuerst habe ich in Ungarn gesehen, wie Juden abtransportiert wurden. Dann erfuhr ich, dass Frauen und Kinder getötet wurden. Mich hat das umgehauen. Ich war nicht in den Krieg gezogen, um Zivilisten zu ermorden. Ich wollte gegen andere Soldaten für den deutschen Sieg kämpfen - ich kannte ja nichts anderes."
Ein Umdenken setzte ein. Als der 18-Jährige im September 1944 wegen einer leichten Gelbsucht ins Lazarett musste, suchte er den Kontakt zu Italienern und fand schließlich Einheimische, die ihn zu den Partisanen in die Berge des Apennin brachten. Dort angekommen, beäugte man ihn zunächst etwas misstrauisch. Doch Rahe fand Unterstützung bei einem anderen Deutschen: "Leonhard Wenger hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft und sich später den italienischen Partisanen angeschlossen. Er hat mich angelernt."
In der Folgezeit lebten die Widerstandskämpfer in winzigen Bergdörfern, über denen amerikanische Flugzeuge dann und wann Nahrung sowie Waffen abwarfen, so dass auch Rahe in Besitz einer Maschinenpistole kam. Doch die wenigen Nahrungsmittel reichten bei weitem nicht aus, erinnert sich der 90-Jährige: "Es gab jeden Tag Polenta. Der Hunger war allgegenwärtig."
Die Partisanen bekämpften die deutschen Einheiten in den Bergen, griffen sie auf dem Weg zur Front an, sprengten Brücken. "Bei den Schusswechseln gab es Tote auf beiden Seiten", sagt Erich Heinrich Rohe. Um bei den Bergbauern Lebensmittel einkaufen zu können, benötigten die Widerstandskämpfer zudem Geld. So entstand die Idee, die Banca d?Italia im Ort La Spezia zu überfallen. Dort gab es einen Mitarbeiter, der vorgeblich mit den Deutschen paktierte, tatsächlich aber für die Partisanen als Spion arbeitete. Rahe hatte eine Wehrmachtsuniform angezogen, um nicht aufzufallen, doch die Operation wurde abgebrochen: "Denn genau zu dieser Zeit gab es einen deutschen Großeinsatz gegen Partisanen. Wir mussten umkehren."
Im April 1945 war der Krieg vorbei. Rahe bekam einen Ausweis ausgestellt, der bestätigte, dass er Mitglied der Garibaldi-Brigaden war. Sein Vorname darin lautet "Enrico Enrico", denn dieser Name ist die italienische Übersetzung sowohl für Erich als auch für Heinrich. Außerdem erhielt er die Auszeichnung für Patrioten, unterschrieben von Feldmarschall Harold Alexander, dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Italien und späteren britischen Verteidigungsminister.
Zwei weitere Jahre blieb Rahe in Italien, hielt sich mit Fabrikjobs über Wasser und lernte eine Frau kennen, die er heiratete. "Denn nach Hause konnte ich nicht, da keinerlei Züge fuhren." Erst im März 1947 kehrte er heim, begleitet von seiner italienischen Frau.
Der junge Mann begann in Deutschland ein ganz normales Leben und arbeitete als Bergmann im Ruhrgebiet, ehe er zunächst nach Versmold und später nach Gütersloh zog. Seine bewegte Vergangenheit holte ihn in den 80er Jahren, beim Eintritt in den Ruhestand, wieder ein: Denn während Soldaten die Kriegsgefangenschaft bei der Rente angerechnet bekamen, fehlten ihm die Jahre 1945 bis 1947 auf der Abrechnung. Erich Heinrich Rahe klagte dagegen - und verlor. "Ein Richter hat mich sogar gefragt: ,Wie, Sie haben auf Kameraden geschossen??"
Die für einen jungen Menschen so außergewöhnliche Entscheidung, seinem Gewissen und nicht Befehlen zu folgen, schien in den vergangenen Jahrzehnten in Vergessenheit geraten zu sein. Bis der Gütersloher erfuhr, dass sein damaliger Mut über 70 Jahre später vom italienischen Verteidigungsministerium mit einer Medaille und einer Urkunde belohnt wurde, die Rahes Sohn Ermanno stellvertretend für seinen Vater vor drei Wochen in Italien in Empfang nahm. Die Auszeichnung solle demnächst eingerahmt werden, sagt er. Dabei merkt man, dass er ein bisschen stolz ist. Zu Recht.
Widerstand in Italien
- Mit dem Kriegseintritt im Juni 1940 war Italien unter dem „Duce" Benito Mussolini einer der engsten Verbündeten des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg.
- Die Invasion der Alliierten in Sizilien stellte ab Juli 1943 den Anfang vom Ende der faschistischen Diktatur in Italien dar.
- Im September schloss die neue Regierung einen Waffenstillstand mit den Alliierten, worauf die deutsche Wehrmacht Norditalien besetzte, um sich die kriegswichtige Industrie zu sichern.
- In den besetzten Gebieten sorgten die Truppen Hitlers durch rücksichtslose Gewalt für Angst und Schrecken. Kriegsgefangene wurden zu Zwangsarbeitern, auch wurde die Judenverfolgung intensiviert.
- Gegen die Besatzer setzten sich immer mehr italienische Partisanen, die „Resistenza", zur Wehr, was die Deutschen zu weiteren Gräueltaten animierte.
- Am 25. April 1945 endete der Krieg in Italien.