Schildesche. Manchmal überträgt der Volksmund auch das Große ins Kleine oder gar ins Provinzielle. So werden sich manche ältere Schildescher noch daran erinnern, dass ihr Ortsteil rund um die Stiftskirche die Bezeichnung „Klein-Berlin" trug.
Schildesches Wurzeln
Im Jahre 939 gründete die Adelige Marswidis in Schildesche ein Kloster beziehungsweise ein Damenstift. Zwölf, später dann 17 Kanonissen oder Stiftsjungfern bildeten diese geistliche Einrichtung. Erst 1810 wurde das Stift aufgelöst. Die Autoritäts- und Respektspersonen in Schildesche waren bis dahin die Stiftsdamen, die drei Geistlichen, die zum Stift gehörten, der Verwaltungsbeamte, der Amtmann. Als diese Autoritäten nicht mehr existierten, bildeten sich neue Honoratioren: der ab 1816 neu eingesetzte Amtmann, die beiden evangelisch-lutherischen Geistlichen, der katholische Geistliche, der Lehrer und der Apotheker.

Der „Reichstag" an der Talbrückenstraße
An der Talbrückenstraße – ein wenig Richtung Viadukt – stand im 19. Jahrhundert der „Reichstag" oder auch die „Ressource". Eigentlich war es ein privates Gebäude – doch trafen sich dort die Schildescher Honoratioren, tranken ihr Bierchen und rauchten ihre Pfeife. Dabei wurde die allgemeine politische, wirtschaftliche und örtliche Lage ausführlich besprochen. Einmal hieß es, dass man in Schildesche auch alles so bauen könne wie in Berlin. Eigentlich stand hinter der Vorstellung des Bauens der Gedanke, dass man sich in Schildesche behördenmäßig und gesellschaftspolitisch genauso verhalten könne wie in Berlin. Einen Unterschied zwischen einem Vorort von Bielefeld und der Hauptstadt Preußens und des Kaiserreiches sah man nicht.
Geschenke an den Reichskanzler Bismarck
Auch entstand wohl hier der Plan, dem Reichskanzler als Ehrerbietung einen der wohlschmeckenden Schinken des Apothekers Heinrich Upmann zu schicken. Die Wurzeln der Apotheke in Schildesche gehen auf das Jahr 1809 zurück, als der Apotheker Friedrich Wilhelm Liekfeld hier eine Apotheke begründete. Seinerzeit gab es in fern und nah um Schildesche herum nur drei solche Institutionen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der seinerzeitige Apotheker Upmann ein Räucher-Verfahren für Schinken entwickelt. Für den heutigen Zeitgenossen sicherlich etwas ungewöhnlich, dass ein Apotheker auch geräucherte Fleischwaren verkaufte.
Eines Tages nun entschieden sich die Schildescher Honoratioren, dem Reichskanzler Bismarck für seine Verdienste um die Reichseinigung einen Schinken zu schicken. 1877 bedankte er sich in einem längeren Schreiben bei ihnen. Auch hier mag ein Grund dafür liegen, dass im Volksmund die Bezeichnung „Klein-Berlin" für Schildesche entstand.
Ein historisches Foto für „Klein-Berlin"
Wie das immer bei volksmundlichen Bezeichnungen so ist, findet der Geschichts-Forscher nicht unbedingt Belege oder Dokumente zu den Begriffen und Bezeichnungen. Doch einmal hat die Bezeichnung „Klein-Berlin" einen augenscheinlichen fotografischen Niederschlag gefunden. Ende Juli 1939 feierten die Nationalsozialisten in Schildesche ihre 1.000- Jahrfeier. Vier Tage waren umfängliche Feierlichkeiten mit Festveranstaltungen, Aufmärschen und politischen Reden angesagt. Dabei gab es auch einen Festumzug durch die Straßen des Ortes. Und dabei wurde nun ausgerechnet eine Kuh mitgeführt, in deren Fell man den Namen „Klein-Berlin" rasiert hatte – sowie „1.000 Jahre".
Die große NW-Sommer-Serie
- In gut 30 Teilen laden wir Sie, liebe Leser, zu einer Reise durch Bielefeld ein – ein kurios-anderes Bielefeld, als es die meisten Leser wohl kennen.
- Bereits erschienen ist der Aufmacher mit einer Karte zu 30 besonderen Orten – und das Arbeiterschloss, die Linke Baracke, De Griese, Klein-Korea, Klein-Istanbul, Monte Scherbelino, Brakenbömmel, Glasmacherhäuser, Beamtenschloss und die Spenger Schlacht.
- Heute ist das Thema: Klein-Berlin.
- In den kommenden Wochen erscheinen: Picasso-Platz, Schipkapass, Kanonenrohr, Notpforte, Vatikan und Engelsburg, Unter-, Ober- und Negerdorf, Sieker Schweiz, Langer Jammer, Schwedenschanze, Hallelujah-Steinbruch, Blödental, Hallelujah-Express, LindemannsHalbinsel und Die Brosche, Buntes Haus, Königreich Dalbke, Wohnen am Wolgabogen, Max und Moritz, Schlanke Eva, Sparecke sowie je ein Text zur Mobilität und zur Ernährung.
- Weitere Texte könnten noch folgen, auch, wenn wir entsprechende Leserhinweise erhalten. Sollten Sie eine Idee haben – Merkmale: kurioser Name und historische Relevanz für Bielefeld – mailen Sie die Idee an diese Adresse: JWibbing@bitel.net