Beliebtes Bravo-Format

"Ich war Dr. Sommer"

Interview mit Dr. Sommer: Dr. Martin Goldstein (82), der vor 40 Jahren bei der Bravo als Sexualberater einstieg, berichtet über seinen Job und seine Heimat.

Martin Goldstein arbeitete 15 Jahre lang als Dr. Sommer für die "Bravo". | © picture-alliance/ dpa | Roland Weihrauch

22.10.2009 | 07.06.2022, 10:48

Bielefeld. Berühmt wurde er als Dr. Jochen Sommer im Jugendheft Bravo. Von 1969 bis 1984 beantwortete der Therapeut mit seinem Team hunderttausenden Jugendlichen ihre Fragen rund um die Liebe. Es gab Vorgänger mit anderen Pseudonymen, es gibt Dr.-Sommer-Nachfolger. An das Original kam keiner heran. Mit Dr. Martin Goldstein, wie der 82-jährige gebürtige Bielefelder jenseits der Bravo heißt, sprach NW-Redakteur Kurt Ehmke.

Wenn Sie heute noch einmal kernige 42 wären – würden Sie wieder als Dr. Sommer anfangen?
DR. MARTIN GOLDSTEIN: Um der Jugend willen würde ich das wieder machen, aber herausfordernder, in neuer Form.

Herausfordernder?
GOLDSTEIN: Nicht im Sinne von sich bedienen lassen. Die Jugendlichen sollten selbst etwas tun, um Antworten zu erhalten. Vielleicht in einer Art Forum.

Auf die 68er folgte in der Sexualität keine echte Revolution: Pornografie überall – doch der Jugend fehlen nach wie vor Wege, sich offen der Liebe zu nähern. Theoretisch wissen sie viel . . .
GOLDSTEIN: . . . ja, sie haben allerlei Wissen, aber alles theoretisch. Vor 40 Jahren war es ähnlich und doch anders: Es gab viele Zwänge und keine Sprache für Sexualität. Heute gibt es andere Zwänge, so den zum Sexkonsum. Was fehlt ist immernoch das Geleit, der persönliche Kontakt. Es gibt eine technische Form von Sexualität, menschliche Kommunikation fehlt völlig.

Ihr Vorgänger bei der Bravo war offenbar sehr klug, wusste immer eine Antwort, bei der der erhobene Zeigefinger fast zu sehen war. Erfolg hatte er nicht. Wie kamen Sie zu monatlich 3.000 Briefen und einem Kult-Status?
GOLDSTEIN: Mein Vorgänger war unter etlichen Pseudonymen immer dieselbe Person – ohne Fach- und Beratungswissen. Es gab nur Richtlinienpädagogik: ja, nein, gut, böse, falsch, richtig.

Das kam nicht an.
GOLDSTEIN: Nein. Ich war eher eine Art psychologischer Berater, ohne Richtlinien, ohne konkrete Lösungen. Es ging um kleine machbare Schritte, ums Ermutigen. Ich sage es mal so: Schone das Ziel, triff daneben.

Heißt?
GOLDSTEIN: Sex und Liebe sind nicht unmittelbar und direkt zu erreichen.

Ein Beispiel.
GOLDSTEIN: Eine 13-Jährige schrieb, sie habe sich in einen süßen Jungen verliebt, und wenn der sie küsse, sei sie lebenslang glücklich. Ich solle ihr aber bloß nicht raten, ihn anzusprechen.

Haben Sie?
GOLDSTEIN: Ich schrieb: Glückwunsch, deine erste Liebe ist da. Das ist gut. Schreib es auf, schreib Liebesbriefe, sprich ihn nicht an. Behalt die Briefe bei dir, denk dir auch mal aus, wie er antworten könnte. Und dann ergibt sich vielleicht einmal ein Gespräch, und du weißt dann schon, was du sagen willst, weil du es schon oft aufgeschrieben und sogar Antworten bekommen hast. Du hast dann das, was heute nicht vorstellbar ist, schon getan.

In Ihrem neuen Buch "Teenagerliebe" plädieren Sie für das Aus der Dr.-Sommer-Rubrik.
GOLDSTEIN: Das verfestigt sich. Durch mich als Dr. Sommer sind eine halbe Million Briefe durchgegangen, und heute weiß ich, dass nicht der unbekannte Guru die Jugendlichen befreit, sondern dass das eine Aufgabe der Nation ist. Wir brauchen wagemutige Erwachsene, die dorthin gehen, wo die Jugendlichen sind – und erst zuhören und dann reden.

Dr. Sommer ist gescheitert?
GOLDSTEIN: Nein, damals war das die Lösung, die ich anbieten konnte – und da sind mein Team und ich auch nie ermüdet. Damals waren wir davon überzeugt, heute würden wir andere Wege bevorzugen. Es handelt sich um einen Mangel der Erwachsenen-, nicht der Jugendwelt.

Es gibt eine Dr. Sommer-Studie.
GOLDSTEIN: Die ist ungeheuer herausfordernd – ich spüre da immer den Schrei der Jugend nach Kontakt, Gespräch, Zugehörigkeit und Verständnis. Dieser Befund hat sich nie verändert.

In unserer Gesellschaft verweigern Baptisten ihren Kindern den Sexualkundeunterricht und Muslime ihren Mädchen den Schwimmunterricht – was sagt Dr. Sommer dazu?
GOLDSTEIN: Das ist so wichtig, aber ich habe da nichts zu sagen. Es wäre ein ganz schwerer Weg zwischen meinem Besserwissen und der Geduld, die ich haben müsste. Es geht um Traditionen. Ich weiß, dass ich nicht mit Lösungen kommen würde, sondern das Problem thematisieren würde. Jemanden zu vergrätzen, das bringt nichts. Die Geduld müsste wohl Generationen umfassen. Übrigens finde ich den Sexualkundeunterricht inkompetent. Er geht nur über Wissen, nicht über persönliches Erleben – so bringt das niemanden weiter.

Was verbinden Sie noch mit Ihrer Geburtsstadt Bielefeld?
GOLDSTEIN: Dankbarkeit und Vertrauen zu den Menschen, mit denen ich hier gelebt habe. Mein Vater war Jude, aber ich bin nicht gemobbt worden in Bielefeld. Die Bielefelder sind treu und stur, als Hitler hier einmal sprach, jubelten sie nicht.

Sie haben im Frühjahr 1945 in Bielefelder Wäldern von Pflanzen gelebt. Als die Bomben fielen, kam für Sie, den 17-Jährigen, die Zeit nach der verlorenen Jugend und des Nazi-Terrors – können Sie Bielefeld besuchen oder sitzen die Erlebnisse zu tief?
GOLDSTEIN: Lange habe ich dazu geschwiegen, dann wollte ich reden. Ich wurde 1944 von der Gestapo deportiert, mein Vater und mein Bruder auch. Ich erinnere mich an schreckliche Erlebnisse, so die Zwangsarbeit; wurde aber reklamiert und kam wieder frei. Im März 1945 bekam ich noch einmal einen Gestellungsbefehl. Um der Vernichtung zu entgehen, versteckte ich mich über Wochen im Wald, bei Sieben Hügel, schlich nur nachts nach Hause. 50 Jahre habe ich alles verschwiegen, bis ich spürte, dass ich das nicht verschweigen darf. Jetzt berichte ich oft vor Schülern. Die haben die Nase voll vom Geschichtsunterricht über die Nazi-Zeit. Sitzt aber ein Zeitzeuge vor ihnen und erzählt, sind sie still, aufmerksam, andächtig, dankbar. Das löst viele Ängste, auch in mir. Ja, das erlöst mich.

Heute leben Sie in einer Wohngemeinschaft in Kaarst und immer wieder auch im Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt – sind Sie auch da noch immer ein bisschen Dr. Sommer?
GOLDSTEIN: Dr. Sommer ist so in mir drin, dass er immer da ist. Wenn ich gefragt werde, ist das immer meine Aufgabe.

Sexualität und Lachen gehören zusammen – sicher musste Dr. Sommer oft erst Lachen und dann sehr ernst antworten.
GOLDSTEIN: Mein Team und ich haben in meiner Düsseldorfer Wohnung gearbeitet, wenn wir Besuch hatten, hat der sich oft gewundert, wie häufig wir laut vor Lachen losgebrüllt haben. Nicht boshaft, sondern weil viele Fragen authentisch und so originell waren.

Tobias, der Junge, der wissen wollte, wie er die Spirale auf den Penis bekommt.
GOLDSTEIN: Auch da galt: Immer ermutigen, nie entwerten.

Wie sah das aus?
GOLDSTEIN: Erster Satz: Du bist auf dem richtigen Weg.

Weil er verhüten wollte?
GOLDSTEIN: Das ist doch erstmal gut. Aber ihm haben wir privat geantwortet.

Gibt es einen jungen Briefeschreiber, bei dem Sie sich gerne heute entschuldigen würden?
GOLDSTEIN: Ein Mädchen, das nach einem Tanzabend von ihrem Tanzpartner in einer Scheune vergewaltigt wurde. Da tut mir die Antwort noch heute weh. Ich schrieb: Es ist aber auch unklug, mit einem fremden Knaben in eine dunkle Scheune zu gehen.

Was würden Sie heute antworten?
GOLDSTEIN: Wenn etwas in der Sexualität gegen deinen Willen läuft, ist es immer falsch. Fühl dich nicht mitschuldig.

Sie haben als Junge onaniert und danach Gott um Verzeihung gebeten. Mit 27 Jahren hatten Sie Ihren ersten Sex, mit der Ehefrau, nach der Hochzeit. Ist so eine Sexual-Biographie eher Hilfe oder Last im Geschäft des Aufklärers?
GOLDSTEIN: Als die Frage kam, ob ich für Bravo arbeiten wollte, dachte ich: Jetzt kann ich als gelernter Therapeut und Berater helfen, dass sich nicht wiederholt, was ich erlebt hatte. Ich musste nicht so ein schöpfungswidriges Zeug erzählen.

Ein Stück weit Selbsttherapie?
GOLDSTEIN: Ich habe all dieses Zeug auch aus meinen Knochen wieder herausbekommen, aber das dauerte sehr lange.

Wenn Sie heute 13 Jahre alt wären, auf dem Kesselbrink Skateboard fahren würden, in ein Mädel verknallt wären und viele Fragen zur Liebe hätten – wo würden Sie Antworten bekommen?
GOLDSTEIN: Ich fürchte, ich würde keine Antworten finden.

Warum?
GOLDSTEIN: Aus Sorge, dass mich die Erwachsenen verlachen würden – oder weil ich die Antworten schon kenne.

Frustrierend.
GOLDSTEIN: Letztes Jahr ist mir endlich begegnet, was wirklich gut ist – die Liebesschule Potsdam. Hier werden Jugendliche wirklich toll vorbereitet und bereits in der frühen Pubertät begleitet, das ist das Beste, was ich kenne.