Bielefeld. Marta Binder aus Schildesche ist 79 Jahre alt, doch auf dem Fahrrad bewältigt sie Distanzen, auf die weitaus jüngere Menschen stolz wären. Ihre Augen sind hellwach, in der festen Stimme schwingt ein leichter ungarischer Akzent mit. Durch einen Schicksalsschlag hat sie eine Leidenschaft zu ihrer Berufung gemacht.
Der Grund für ihren unermüdlichen Einsatz: Jeder gefahrene Kilometer ermöglicht Kindern ein besseres Leben durch Schulbildung. Alles begann mit ihrem Sohn Jan, der als Pressesprecher für „Opportunity International“ arbeitete. Diese Hilfsorganisation bietet Menschen in Entwicklungsländern durch Schulungen und Kleinstkredite einen dauerhaften Weg aus dem Teufelskreis der Armut. Kurz vor ihrer Pensionierung als Kinderärztin am Universitätsklinikum Münster schlug sie ihrem Sohn vor: „Wenn ich in Rente gehe, kann ich durch Fahrradtouren für euch Spenden einsammeln.“ Jan war begeistert: „Geile Idee, Mutter, machen wir.“
Doch es folgte ein schwerer Schicksalsschlag: Sohn Jan verunglückte kurz darauf bei einem Besuch von Hilfsprojekten in Ghana tödlich. Binder erinnert sich noch genau: „Er war ein 31-jähriger, charmanter, eloquenter, junger Mann. Auch wenn jeder sterben muss, ist es doch hart, wenn Kinder früher als ihre Eltern gehen. Irgendwo halte ich ihn durch das Fahrradfahren ein Stück weit am Leben.“ Umso wichtiger war es für sie, ihr Versprechen umzusetzen und 2013 ihre erste, zehntägige Fahrradtour durch Nordwestdeutschland zu fahren: „Damals habe ich 954 Kilometer zurückgelegt und 12.500 Euro gesammelt. Da habe ich gezeigt, dass es um mehr geht als nur Trauerbewältigung.“
Auch einige Stürze musste sie schon erleiden
Von der Sache überzeugte Sponsoren ermöglichten die Fortsetzung der Aktion, und so kamen Jahr für Jahr mehr Kilometer und mehr Spenden dazu. 2023 hatte sie dann mit 40.075 Kilometern einmal die Strecke des Erdumfangs zurückgelegt. Doch die Seniorin fährt tapfer weiter: „Als mir mein Tacho die virtuelle Weltumrundung zeigte, habe ich umgedreht für den Rückweg.“
Lesen Sie auch: Tierpark-Kalender 2026: So haben die Bielefelder ihre Olderdissen-Tiere noch nie gesehen
Die Strecken meistert sie aus eigener Kraft auf einem gewöhnlichen Fahrrad, lediglich für die Berge nutzt sie einen leichten E-Motor. Mit einem Seitenspiegel schützt sie sich vor unaufmerksamen Autofahrern, denn manche halten zu wenig Sicherheitsabstand auf der Landstraße. Auch einige Stürze musste sie schon erleiden und beklagt Fahrradwege, welche im Vergleich zu Straßen in schlechtem Zustand sind, auch wenn sich in den letzten Jahren einiges getan hätte.
Sie reist mit lediglich vier Kilogramm Gepäck, gerade genug, um sich nach einem heftigen Regenschauer einmal umziehen zu können. Trotzdem reicht ihr das für drei- bis vierwöchige Reisen. Seit sie von Google Maps und Garmin auf nicht mehr existierende Wege geführt wurde, plant sie ihre Strecken mit der App Komoot, diese zeige auch die Qualität der Straßenoberflächen an. Die Unterkünfte auf ihren Strecken zahlt die Dame aus Schildesche selbst.
Einladungen von Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum
Wohin sie fährt? Meistens folgt sie Einladungen von Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, die von ihrer Geschichte berührt sind: „Ob Zürich, Leipzig, Kaiserstuhl oder Freiburg: Ich folge im Grunde jeder Einladung, die ich bekomme.“ Die Sponsoren sind Firmen und Privatpersonen, die älteste und treueste ist jedoch ihre Enkelin, die Tochter von Jan Binder. Das Mädchen spendete von Anfang einen Cent pro Kilometer von ihrem Taschengeld.
Auch interessant: Spendensumme für todkranke Tochter schon beisammen: Bielefelder Familie überwältigt
Mit den Spenden vergibt „Opportunity International“ Mikrokredite. Mit diesen Kleinstkrediten finanzieren sie Bildungsunternehmern in Ghana sogenannte Microschools und verteilen Stipendien. Microschools sind Privatschulen für sehr arme Menschen, ihre geringen Gebühren richten sich danach, was die Familien der Schüler zahlen können. So wird der Mikrokredit über die Zeit zurückgezahlt und kann bei Bedarf erneut vergeben werden.
Binder erklärt: „Für diese Idee wurde der Friedensnobelpreis verliehen. Jedes Mädchen, das zur Schule geht, wird auch als Mutter dafür sorgen, dass ihre Kinder zur Schule gehen. Wenn ich mal unterwegs irgendwo schwitze, dann weiß ich, dass das nicht nur für die Kinder jetzt ist, sondern auch für die nächste Generation. Dafür lohnt es sich schon, sich einzusetzen.“
Solange sich Fahrradsattel und Sitzfleisch vertragen
Zusätzlich haben die Seniorin und „Opportunity International“ den Jan-Binder-Award ins Leben gerufen, welcher nach dem Motto „Keep your school clean, make your school green“ Schulen, welche sich für Hygiene und Nachhaltigkeit einsetzen, mit Geldpreisen belohnt. Die Preisverleihung wird mittlerweile sogar im ghanaischen Staatsfernsehen übertragen, erklärt Binder stolz.
Als Binder ihre erste „Weltumrundung“ geschafft hatte, rechnete „Opportunity International“ aus, dass pro Kilometer ungefähr ein Kind erreicht worden ist. „Inzwischen bin ich also bei über 50.000 Kindern, eine ganze Kleinstadt voll. Das ist wirklich eine feine Sache.“ Und als Nächstes? Binder folgt weiter den zahlreichen Einladungen, die ihr Menschen von überall schicken: „Aufgeben gibt’s nicht. Ich fahre, solange sich mein Fahrradsattel und mein Sitzfleisch vereinigen können.“