Bielefelder Initiative gegen die Zunahme psychischer Erkrankungen

Bielefeld. Die Zahl der Diagnosen psychischer Störungen nimmt in Deutschland seit Jahren zu (siehe Infokasten). Vor allem Depressionen und Angsterkrankungen kommen immer öfter vor. Viele Menschen sind den Belastungen in ihrem persönlichen Leben, vermutlich aber auch angesichts weltumspannender Krisen, nicht mehr gewachsen. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Zunahme psychischer Auffälligkeiten – gerade seit der Coronakrise – gut belegt. Bei den Erwachsenen ist die Sache komplizierter: Nehmen die Fälle zu oder sorgt der genauere Blick, eine schnellere Entdeckung und Behandlung psychischer Krisen dafür, dass Zahlen ansteigen? Auch die rund 350 Mitglieder des Bielefelder Arbeitskreises psychologischer Psychotherapeuten (app:), die aus der ganzen Region kommen, haben in ihrer Berufspraxis viel zu tun. Auf Patientenseite gilt: Bei Bedarf schnell einen Therapieplatz zu bekommen, ist auch in Bielefeld nicht einfach. Wie wichtig die Fortbildung für Angehörige psychiatrischer und psychotherapeutischer Berufe ist, darauf möchte das Praxisnetz &bdquo;app:“ mit einer besonderen Fortbildung verweisen. In der Reihe &bdquo;Psychoanalyse und Film“ können Fachleute und Interessierte sechsmal im Jahr einen psychologisch interessanten Film sowie einen Fachvortrag mit anschließendem Gespräch im Lichtwerkkino erleben. Eine Kunststoffpuppe als neue Frau an seiner Seite Aus der Taufe gehoben hat die Reihe Elisabeth Kamender vom Förderverein der Telefonseelsorge im Jahr 2012. Damals hieß sie noch &bdquo;Lichtwerk psychologisch“. Zu sehen sind Filme wie &bdquo;Shutter Island“, &bdquo;Poor Things“, &bdquo;Was vom Tage übrig blieb“ oder aber der Loriot-Kracher &bdquo;Papa ante Portas“. Im besten Fall verbindet so ein Kinoabend Fortbildung mit Unterhaltung. Doch nicht immer habe der Film Komödienpotenzial, so wie der im Mai gezeigte &bdquo;Lars und die Frauen“, sagt Claudia Melcher, niedergelassene psychologische Psychotherapeutin. 2022 hatte sie die Organisation des Formats von Kamender übernommen. Lesen Sie auch: Einsam oder einfach allein – Wie ich meine Gefühle deute Der Film von Craig Gillespies dreht sich um einen schüchternen Mann mit autistischen Zügen, der seine Furcht vor Nähe mithilfe einer Sexpuppe zu bewältigen sucht, die er sich als Partnerin aus Fleisch und Blut imaginiert. Er nimmt sie überall mit hin und signalisiert seiner Umgebung, seinen Blick auf die Puppe zu teilen. Während die Menschen in seiner Kleinstadt zunächst eine abnormale Beziehung vermuten, machen Schwester und Schwager alles richtig. Sie nehmen die Kunststoffpuppe als neue Frau im Leben von Lars ernst, was zu allerlei kuriosen Situationen führt. So bahnt ihm das &bdquo;Übergangsobjekt“ den Weg in eine zarte Beziehung zu einer &bdquo;echten“ Frau. &bdquo;Der Film ist ein zeitloser Dialog über Einsamkeit, Verbindung und die vielfältigen Formen menschlicher Nähe“, bringt es Marie-Luise Althoff auf den Punkt, die als Psychoanalytikerin nach der Vorführung referiert und zum Gespräch einlädt. Und weiter: &bdquo;Er regt zum Nachdenken an über die Natur menschlicher Beziehungen.“ &bdquo;Manchmal sind die Filme düster, die Themen herausfordernd“ Damit ist er ein perfektes Fortbildungsinstrument. Denn: &bdquo;Es geht darum, was der Film bei uns auslöst. Er legt uns sozusagen selbst auf die Couch“, beschreibt Melcher Sinn und Zweck der Aktion, die inzwischen bei Ärzten, Therapeuten und Studierenden einschlägiger Fachrichtungen einen so guten Ruf hat, dass die Kino-Vorführungen fast immer ausverkauft sind. Für Studierende der Psychologie ist die Reihe als Studienleistung anrechenbar. &bdquo;Wir möchten zugleich für eine Methodenvielfalt innerhalb der Psychotherapie werben“, schildert Melcher. Manches Verfahren verspreche zwar zunächst schnellere Ergebnisse, sei aber nicht immer ausreichend. Psychoanalyse hingegen sei deutlich aufwendiger, aber auch tiefer gehend. In Bielefeld stehe es aber kaum noch auf der therapeutischen Tagesordnung, ergänzt Therapeutin Silke Andermann. Das wollen die Organisatorinnen gern ändern, denn es sei &bdquo;ja längst nicht mehr die frühe Therapieform Freuds, sondern hat sich enorm weiterentwickelt und an heutige Verhältnisse angepasst“, so Melcher. Lesen Sie auch: Bielefelder Kinogründer übergibt Geschäftsführung Kommt ein Film wie &bdquo;Lars“ eher leicht daher, so gibt es auch ganz andere Inhalte. &bdquo;Manchmal sind die Filme düster, die Themen herausfordernd“, schildert Melcher. Der nächste Beitrag am 9. Juli etwa, &bdquo;Das finstere Tal“, habe deutlich mehr Schockpotenzial. &bdquo;Manchmal fragen Gäste nach einer Trigger-Warnung“, sagt Lichtwerkkino-Betreiber Matthias Goßmann, der die Reihe sehr unterstützt. Doch das hält er für eine unnötige Bevormundung eines an sich kundigen Publikums. Mehr auf: www.arthousekinos-bielefeld.de Zunahme psychiatrischer Diagnosen Im Zeitraum 2012 bis 2022 stieg der Anteil von Personen mit ambulanten Diagnosen psychischer Störungen von 33,4 Prozent auf 37,9 Prozent an (+13,4 %). In fünf ausgewählten Diagnosegruppen rangieren die Trends zwischen -11,6 und +115,8 % und verlaufen überwiegend stetig, ab 2020 auch vereinzelt verstärkt oder stagnierend. Bei männlichen Personen (+18,3 %) nahm die Diagnoseprävalenz 2012–2022 stärker zu als bei weiblichen (+10,8 %). Im Altersbereich 11 bis 17 Jahre sowie 60 bis 84 Jahre zeigten sich die stärksten Zuwächse (mehr als 15 %). Die Zusammensetzung des Diagnosespektrums blieb bei Erwachsenen stabiler als bei Kindern und Jugendlichen. (Quelle: Deutsches Ärzteblatt 11/2024).

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