Barrierefreies Juraexamen sorgt für mehr Teilhabe blinder Studenten

Bielefeld. Für Sanjayan Arulanantham ist es ein Meilenstein: Der in seiner Kindheit allmählich erblindete 24-jährige Jurastudent wäre eigentlich auf einen Assistenten aus Fleisch und Blut angewiesen, der ihm die für das Erste juristische Staatsexamen geforderten Gesetzestexte vorlesen würde. Doch Arulanantham konnte in seiner Prüfung im April auf ein ganz anderes Verfahren zurückgreifen. Eine ausgeklügelte Idee und Initiative an seinem Studienort, der Universität Bielefeld, machte es möglich – die Bielefelder Barrierefreie Gesetzessammlung bescherte ihm über eine siebenstündige Prüfungsdauer hinweg ein wirklich inklusives Erlebnis. Die Gesetzestexte bilden in der Prüfung die Basis für die Bearbeitung eines relevanten Falls und das Abfassen eines Gutachtens unter Anwendung der juristischen Methodik. Um das Verfahren zu demonstrieren, ruft der Student auf seinem Laptop die Gesetzestexte auf. Wohin auch immer er klickt, es erklingt eine freundliche Frauenstimme, die ihm den Inhalt vorliest – das ist der sogenannte Screenreader bei der Arbeit. Angeschlossen an den Laptop ist eine Braillezeile, eine schmale Tastatur mit den Zeichen der klassischen Blindenschrift. Der aktuell &bdquo;gelesene“ Text auf dem Schirm lässt sich auch auf die Braillezeile übertragen und ist dem Studierenden dann auf taktile Weise zugänglich. &bdquo;Es geht um mehr Eigenständigkeit und Teilhabe“ &bdquo;Teile unseres Lernmaterials werden schon lange digital angeboten“, schildert der Bielefelder, der sein Abitur in Soest ablegte und nun im 10. Semester an der hiesigen Uni Jura studiert. &bdquo;Doch ein Problem waren immer die umfangreichen Gesetzessammlungen, die wir fürs Examen benötigen. Die lagen bislang nur in gedruckter Form vor, wohl auch um Schummeleien vorzubeugen“, führt er aus. Dass es inklusiv und trotzdem im Hinblick auf ausschließlich selbst erbrachte Prüfungsleistungen sicher geht, beweist das in Bielefeld entwickelte System. Dass es entwickelt wurde, ist der aus Saarbrücken nach Bielefeld berufenen Juraprofessorin Marie Herberger zu verdanken. Arulanantham ist ihr Student und sozusagen auch Versuchsperson. Ihren eigenen Studienort im Saarland bezeichnet die Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Methodenlehre, Recht der Digitalisierung und Legal Tech als &bdquo;sehr fortschrittlichen Digitalisierungsstandort“. Lesen Sie auch: Uni Bielefeld schlägt im Wettbewerb um kluge Köpfe einen neuen Weg ein Dergestalt geeicht auf das Thema, sei es ab 2022 für sie nur ein kleiner Schritt gewesen, sich um Fortschritte in der Inklusion von Studierenden mit Beeinträchtigungen zu kümmern. &bdquo;Die Digitalisierung bietet hier große Chancen“, sagt sie. Im Verbund mit Michael Johannfunke von der Zentralen Anlaufstelle Barrierefrei (ZAB) der Uni Bielefeld als aufgeschlossenen Kooperationspartner wurde das System ausgebaut und installiert. &bdquo;Ich bin selbst sehbehindert und kann mich gut in die Lage blinder Studenten einfühlen“, so Johannfunke. Herberger würde den Studierenden noch mehr Zeit wünschen Da traf es sich gut, dass er zudem als Informatiker, gemeinsam mit dem Entwickler Jonas Hinz, direkt an die praktische Umsetzung gehen konnte. Fehlte nur noch das &bdquo;Go!“ durch das zentrale Prüfungsamt am Oberlandesgericht (OLG) in Hamm: Aber auch dort war man restlos begeistert von der Möglichkeit, blinden und sehbehinderten Studierenden eine große Portion mehr Inklusion und Chancengleichheit zu ermöglichen. Dem ersten wirklich barrierefreien Ersten Staatsexamen stand nichts mehr im Wege. Sieben Stunden hatte Arulanantham zur Verfügung, gegenüber den üblichen fünf Stunden bei nicht beeinträchtigten Prüflingen: &bdquo;Hier wirkte ein Nachteilsausgleich. Immerhin dauern die Erschließung der Texte und weitere Arbeitsschritte für uns länger.“ Herberger würde sich wünschen, dass den sehbehinderten Prüflingen auf Sicht noch mehr Zeit gegeben wird. Das könnte Sie auch interessieren: Am Ende ist es dunkel – Bielefelderin erblindet und wagt den beruflichen Neustart Doch zunächst freuen sich alle Beteiligten, dass das OLG Hamm das Verfahren als Pilotprojekt in ganz NRW ausrollen möchte. Eine bundesweite Nutzung sei angestrebt. &bdquo;Es gibt viele blinde Studierende. Für sie geht es um mehr Eigenständigkeit und Teilhabe“, so Herberger, die nicht nur stolz ist auf das Erreichte, sondern auch auf ein &bdquo;echtes Team-Projekt“. Und da können Michael Johannfunke und Sanjayan Arulanantham nur freudig nickend zustimmen.

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