Höchst sehenswerte Premiere von Antigone im Stadttheater Bielefeld

Bielefeld. Leichenberge türmen sich am Strand von Theben, ertrunkene Bootsflüchtlinge, teils schon der Verwesung anheimgegeben. Aber Herrscher Kreon (überragend und mit fantastischem Timing: Thomas Wehling) weigert sich, sie in der Stadt beerdigen zu lassen: &bdquo;Es sind nicht unsere Toten. Das Gesetz will es anders.“ Dagegen begehrt seine Nichte Antigone (eindrucksvoll zwischen Mut und Verzweiflung schwankend: Rosalia Warnke) auf – wie kann Gesetz sein, was den Werten widerspricht, die eine Gesellschaft im Innersten zusammenhalten? Sind die Toten an der Küste nicht eine Folge kolonialer Ausbeutung, in der unsere Staatsgebilde wurzeln? An diesem Konflikt entzündet sich die Handlung des wortgewaltigen Dramas von Thomas Köck aus dem Jahr 2019, in dem er das nach wie vor virulente Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer in die antike Tragödie von Sophokles hin-einmontiert, genauer in dessen Hölderlin-Übersetzung. Wuchtige Inszenierung durch antike Versform Was weniger Irritationen erzeugt, als man vielleicht annehmen könnte – im Gegenteil: Die Zeitlosigkeit des Stoffes aus der antiken Mythologie verträgt diese Aktualisierung nicht nur ohne Weiteres, sondern verleiht den vielen stummen Toten (Ertrinken ist ein leiser Tod, wie wir mittlerweile wissen) eine Stimme – und was für eine: Die antike Versform verleiht dem Übermittelten eine Wucht, der man sich kaum entziehen kann. Eine Wortgewalt im Übrigen, die den heutigen gesellschaftspolitischen Diskursen häufig abgeht – dabei haben wir heute doch anders als die alten Griechen den Vorzug einer an universellen Werten orientierten Verfassung: &bdquo;Die Würde des Menschen ist unantastbar“ heißt es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes, mit dem die gerade eröffnete Spielzeit des Theaters Bielefeld überschrieben ist. Vielfacher Tod auf dem Mittelmeer Thema Ein Satz, wie in Stein gemeißelt. Und dennoch will es uns nicht gelingen, geeignete Maßnahmen gegen den nach wie vor vielfachen Tod auf dem Mittelmeer zu ergreifen: Theaterbesuchende mögen einen Blick auf die erschütternde Rückseite des Programmhefts oder besser -plakats zum Stück werfen – das Ergebnis von Recherchen der Dramaturgin Franziska Eisele. Die allenthalben vorhandene gesellschaftspolitische Verunsicherung überträgt Thomas Köck auf den (Sprech-)Chor, wesentliches dramatisches Element der antiken griechischen Tragödie, in der Bielefelder Inszenierung umgesetzt als 30-köpfiger, sehr präzise agierender Laien-Sprechchor (Leitung: Vivan Bhatti), der sich in den luftigen Seitenrängen postiert hat und sich des Öfteren lautstark zu Wort meldet: Alles sei &bdquo;viel zu viel“, man möge über solche Dinge schweigen – um an anderen Stellen durchaus konträre Positionen zum Verlautbarten einzunehmen. Publikum wird gefordert Die vielstimmigen und wortreichen Auseinandersetzungen fordern das Publikum, keine Frage. Etwas Erleichterung verschaffen allenfalls die Auftritte des Boten (Faris Yüzbasioglu), der sich in den vielen schlechten Nachrichten, die er ständig zu überbringen hat, absichtlich-unabsichtlich verhaspelt und dabei mit feinem Humor überzeugt, ohne je den ernsten Grundton des Ganzen infrage zu stellen. Lesen Sie auch: Mit &bdquo;Cabaret“ in die neue Saison: Wilder und nachdenklicher Start am Bielefelder Stadttheater Ein weiteres Glanzlicht ist der Auftritt von Oliver Baierl als blinder Seher Teiresias, der die relative Statik des Vermittelten mit seinen fantastischen Geschichten unterminiert und die Verse von Sophokles/Hölderlin/Köck so virtuos dekonstruiert, dass seinem flammenden Plädoyer für die Rettung des untergehenden Planeten fast dasselbe Schicksal widerfährt. Als Kreons leidgeprüfte Gemahlin Eurydike, die den Verlust ihres zweiten Sohnes nicht überwinden wird (schon ihr erster Sohn wurde Opfer der Staatsräson), überzeugt Nicole Lippold. Jenen Sohn Haimon spielt Omar El-Saeidi, Clara Fenchel die Ismene, Antigones Schwester. Bühnenbild von Julia Hattstein überzeugt Aber nicht nur schauspielerisch überzeugt die Bielefelder Inszenierung: Das so monströse wie schlichte Bühnenbild von Julia Hattstein hat das Gepräge einer brutalistischen Beton-Akropolis, deren Stufen allerdings so hoch sind, dass man sie nur erklimmen, nicht einfach hochsteigen kann – Symbol unüberwindlicher Gegensätze, aber auch Versinnbildlichung der enormen &bdquo;Fallhöhe“ der Figuren, etwa beim &bdquo;Zeitlupensturz“ Eurydikes auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes hin. Insgesamt ein engagiertes, hochaktuelles, kritisches Drama, von Dariusch Yazdkhasti engagiert und stilsicher inszeniert, mit einem fantastischen Bühnenbild, hochklassigen darstellerischen Leistungen und einem beeindruckenden Chor – ein Werk, das auf die Macht der Worte setzt, was sich lohnt, wenn man einen so grandiosen Text vor sich hat. Das Premierenpublikum war begeistert und wollte die Schauspieler gar nicht von der Bühne lassen. Höchst sehenswert. Hier gibt es Karten Karten für die weiteren Veranstaltungen gibt es in der NW-Geschäftsstelle in der Niedernstraße 21-27 oder online beim Theater Bielefeld.

Meistgelesen