24 Stunden an der „Bielefelder Tüte“: So ist es wirklich am Drogen-Hotspot

Bielefeld. Die Tüte. Alle reden drüber. Die Zustände am Stadtbahnzugang im Bahnhofsbereich sind Dauerthema. Ich frage mich: Wie sieht denn ein normaler Tüten-Tag aus? 24 Stunden schaue ich mir das an, immer zur vollen Stunde, verteilt auf drei Tage. Mittags fange ich an. 12 Uhr: Vor der Tüte steht niemand, im Bereich rechts neben ihr sitzen und stehen die, die für viele hier ein Problem sind. Obdachlose, Trinker, von Drogen gezeichnete Menschen. Sie trinken, quatschen, dösen. Zwischen ihnen wuselt ein Mann herum, er reinigt Schilder, entsorgt Müll. 13 Uhr: Dasselbe Bild, nur eine Gruppe von fünf jungen Männern fällt auf. Schirmmützen und Bauchtaschen tragen sie – und wirken angespannter als der Rest hier. Drogendealer? 14 Uhr: Vor der Tüte? Uringestank. An den Wegen um den Park herum sitzen Passanten im Schatten der Bäume – an der Betonrinne, am Brunnen. Im Park? Gruppen zumeist junger Männer. Einer pinkelt unverhohlen an einen Baum. Öffentliche Toiletten? Fehlanzeige. Es ist dienstags, berufstätig scheint keiner zu sein. Cannabisduft ergänzt den Uringestank. Quer durch den Park würde ich jetzt nicht gehen wollen. Die Männer empfinde ich als latent bedrohlich. Am Rand der Tüte hocken die, die ich eher bedauere, als dass sie mich ängstigen. Im Brunnen wäscht ein Mann, der erbärmlich aussieht, seine Klamotten. Die Tüte an sich ist eher unproblematisch 15 Uhr: Mein Eindruck, dass die Tüte, also der Stadtbahnzugang, tagsüber kein Problem ist, verstärkt sich. Früher hingen hier Drogenabhängige und Verwahrloste herum, jetzt sitzen sie seitlich daneben. Eine Bettlerin aus der City treffe ich: Mit ihrem Hund sitzt sie im Schatten, bewusst weit weg von den sicher 15 bis 20 jungen Männern tiefer im Park. Diese Gruppen sehen nicht nach Not und Elend aus, sondern nach Geschäft. Vor dem Kiosk gegenüber spricht mich einer an, ich verstehe kein Wort. Er zeigt mir ein Tütchen, ich schüttel den Kopf, hier wird sichtbar gedealt. 16 Uhr: Plötzlich springen hinten im Park aus einer der Bodenwellen mehrere Männer auf. Zwei von ihnen schlagen sich hart und heftig, einer geht dazwischen, schlichtet. Das Ganze dauert Sekunden. Lesen Sie auch: Lösungen für Drogen-Hotspot &bdquo;Tüte”: Was Bielefeld von anderen Städten lernen kann 17 Uhr: Ich wage mich jetzt einmal quer durch den Park, 30 Meter an der größer gewordenen Gruppe der jungen Männer mit ihren schräg hängenden Bauchtaschen vorbei. Sofort richten sich Blicke auf mich, ist eine Spannung zu spüren. Gespräche werden leiser. 18 Uhr: Ich setze mich unten an die Betonrinne. Aus dem Augenwinkel fällt mir eine junge Frau auf, die zögerlich vorbeigeht und mich mit leicht verschleiertem Blick anschaut. Extrem kurzer Rock, pinke Handtasche, pinkes Top. Sie schaut, schaut, schaut ... und geht dann weiter. 19 Uhr: Zwei Sicherheitsleute stehen zwischen den Stadthallen. Der Weg zum Parkhaus führt hier lang, für Gäste der Stadthalle, Gäste des Bielefelder Hofes. Rechts an der Tüte vorbei, dann dieser enge Gang und das Parkhaus an der Nahariyastraße – es gibt charmantere Wege. Über den Daumen sind es 50 Leute, die den Gang, den Park und den Tütenbereich bevölkern. Aus einer Boombox wummert es laut. Am Rand der Stadthalle streiten sich lautstark zwei Männer, deutschsprachige Kraftprotze voller Übergewicht. Routinierter und dennoch sichtbarer Drogenhandel 20 Uhr: Vor den Kiosken und im Park wechseln immer wieder kleine Dinge den Besitzer, routiniert, aber eindeutig. 21 Uhr: Zwischen Stadthalle und Parkhaus ist es mir echt zu eng, die erzwungene Nähe zu den drei Männern hier brauche ich nicht. 22 Uhr: Von diffusem Schummerlicht zu dunkel sind es Minuten. Um 22 Uhr geht die Brunnenbeleuchtung aus, nun sind die 20 Männer im Park zwischen den wellenartigen Tälern und Anhöhen nur noch schemenhaft zu erkennen, für mich wird der Park zur No-go-Area. Vorne, an der hell beleuchteten Tüte ist es jetzt auch unangenehm, ein Mann bettelt sehr beharrlich. Hinten im Parkhaus liegt ein Drogenabhängiger herum. Lesen Sie auch: Hotelchef erschüttert über Zustände am Bielefelder Hauptbahnhof - jetzt muss gehandelt werden 23 Uhr: Eine Frau, gezeichnet von der Drogensucht, liegt gekrümmt neben der Tüte auf dem Boden. Delirium oder Schlaf? Keine Ahnung. Der Park liegt voll im Dunkeln, doch Stimmen verraten, dass hier Männer unterwegs sind. Unangenehm. Auch gegenüber ist es fies. Männer über Männer vor den Kiosken, einer raunt mir etwas zu, es geht um Drogen. Ein Typ sitzt in seiner Protz-Karre und lässt ständig den Motor aufheulen. 24 Uhr: Wenig los an der Tüte, auch im Park. Drei Männer hängen neben der Tüte ab, zwei schlafen, einer im Rollstuhl. Ein kaputtes Fahrrad und ein herrenloser Bürostuhl stehen bizarr herum. Ein schwer angeschlagener Stammgast, der den ganzen Tag hier war, sammelt Müll ein und versucht, ihn im randvollen Mülleimer zu versenken. Gegenüber ist mehr los: Ein Mann mit zerrissener Hose schläft neben dem Kiosk, vor den drei Kiosken tummelt sich eine Männerwelt, für die das Wort Unterwelt erfunden wurde. Am Rande: die junge Frau im pinken Top. 1 Uhr: Jetzt wird es ruhiger an der Tüte, auch vor den Kiosken – im Park schläft ein Mann. 2 Uhr: Von wegen Ruhe: Die Dealer sind weg, die Obdachlosen bleiben – es wird angestoßen, Bierflaschen klirren. Lesen Sie auch: Bielefelds Kesselbrink und die Tüte haben zwei Gesichter – wie Tag und Nacht 3 Uhr: Lauter Streit unter den Obdachlosen, einer brüllt: &bdquo;Ruhe, Mann!“ 4 Uhr: Ich bin überrascht: Mitten in der Woche sind hier zehn, zwölf Menschen wach, als wäre es mittags. Gut besucht ist der Kebab-Laden gegenüber der jetzt dunklen Tüte, eine sehr junge Frau im schwarzen Leder-Minirock hockt am Straßenrand. 24 Stunden lang Action an der Bielefelder Tüte 5 Uhr: Eine Frau brüllt einen Mann an: &bdquo;Lass mich, hau ab, geh pennen, lass mich!“ 6 Uhr: Die Männer vom Wachdienst, den Mobiel hier fast durchgehend hat, bitten Männer aus den Stadtbahnzugängen zwischen den Stadthallen heraus. Überall wird versucht, zu dösen, zu schlafen, vom Parkhaus über den Durchgang bis hin zur Tüte. &bdquo;Bei Regen natürlich lieber drinnen“, sagt ein Wachmann. So etwas wie einen überdachten Unterstand gibt es hier aber nicht. Gerade für Schulkinder sei es hier morgens oft nicht schön. &bdquo;Vor allem, wenn diese neuen Drogen genommen wurden und die dann aggressiv sind und laut schreien.“ Er kennt hier fast alle Menschen, ist höflich, aber bestimmt. Und weiß auch: &bdquo;Das hier ist deren Zuhause.“ 7 Uhr: Aus der Tüte strömen Menschen, ein Mann sitzt quer auf den Stufen und döst. 8 Uhr: Ich hole Brötchen für meine Familie, beim Gang entlang der Tüte denke ich: &bdquo;Wäre ich nicht ein besserer Mensch, wenn ich ein paar mehr kaufe und hier verteile?“ So, wie ich es manchmal in der City bei mir bekannten Bettlern mache? Lesen Sie auch: Bielefelder Stadthallen-Chef: Bahnhofsvorplatz und &bdquo;Tüte“ müssen stärker überwacht werden 9 Uhr: Auf dem Betonsockel Richtung Stadthallenanbau sitzen fünf Männer, einer schläft. Einer sitzt im Rollstuhl, sein Kopf hängt schräg zur Seite, auch er schläft. Müll liegt herum, viele Glasscherben. Die seitlich an der Tüte hängenden Müllbeutel sind fast leer. Im Park sind wieder Gruppen junger Männer. Anmutung? Arabisch, osteuropäisch, nordafrikanisch. Darf ich das hier überhaupt so schreiben? Aber so ist der Eindruck eben. Ein Mann um die 60 Jahre irritiert mich: Warum steht er morgens um 9 Uhr hier mit all den Männern um die 20 herum? Zwischen Mitleid und Wegschauen an der Tüte 10 Uhr: Ich gehe den halbrund verlaufenden Weg vor der Stadthalle entlang, hier sitzen viele herum. Darunter eine Frau, die ausgemergelt wirkt. Sie bemerkt meinen Blick, fragt mich: &bdquo;Alles gut?“ Ich antworte mit &bdquo;Ja“ und sie sagt freundlich &bdquo;Dann noch einen schönen Tag“ – und greift zu einem Tetrapak mit Saft, der neben ihr steht. Ich fühle Mitleid, wo sollen all diese kaputten Menschen hin, wenn hier hart durchgegriffen würde? 11 Uhr: Ich gehe an einer jungen, blonden Frau vorbei, vielleicht 16 Jahre alt. Merkwürdig sieht sie aus, irgendwie betäubt, leerer Blick. Links und rechts neben ihr sitzen zwei arabisch anmutende junge Männer, gefühlt zu eng an ihr dran. Sie reden auf sie ein, zeigen ihr was auf dem Handy, wirken aggressiv. Ich gehe weiter, fühle mich schlecht. Zu offensichtlich ist, dass hier etwas nicht passt. Ich beobachte andere Passanten – alle schauen weg. So, wie ich es sonst wohl auch getan hätte. Lesen Sie auch: Bielefelder Brennpunkt &bdquo;Tüte“: Chronik eines unendlichen Konflikts

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