Kämpfer für den Rettungsdienst: Bielefelder Notarzt bei Loveparade-Katastrophe an vorderster Front

Bielefeld. Er war der zweite Notarzt vor Ort, der den Opfern in dem engen Tunnel zu Hilfe eilte. Dass er sich als Ersthelfer bei der Loveparade-Katastrophe 2010 selbst in akute Gefahr brachte, sei ihm erst Tage später bewusst geworden, erzählt Notarzt Michael Korth vom Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB). &bdquo;Da haben mir die Hände gezittert.“ Doch es sind nicht die Bilder von Schwerverletzten und Toten nach der Massenpanik in Duisburg, die den erfahrenen Arzt bis heute nicht loslassen. Tiefen Eindruck hat ein eigentlich freudiges Ereignis hinterlassen – eine Geburt. Korth ist ein Ausnahme-Mediziner und er ist ein Ausnahme-Mensch. Einer, der zupackt, einspringt und Verantwortung übernimmt. Pragmatisch und hartnäckig findet er Lösungen, wo andere Probleme sehen. In der Stadt und über ihre Grenzen hinaus hat er sich so einen Namen gemacht. &bdquo;Dabei ist das nie mein Ziel gewesen“, sagt der 66-Jährige mit dem praktischen Kurzhaarschnitt und der kräftigen Statur. Es ist sein Lohn. Jetzt geht er in den Ruhestand. Bielefelder hat den Rettungsdienst revolutioniert Dass die private &bdquo;Rettungsdienst gGmbH“ in Bielefeld gemeinsam vom Deutschen Roten Kreuz (DRK), Johanniter-Unfallhilfe (JHU) und Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) verantwortet wird, geht auf seine Kappe und ist bis heute einmalig in Deutschland. Korth gelingt es in den 1990ern, die Konkurrenzsituation zwischen den drei Hilfsorganisationen zu überwinden, bringt sie an einen Tisch. Heute ist die gemeinnützige Gesellschaft ein fester und vor allem ein großer Bestandteil des Rettungsdienstes der Stadt Bielefeld. Der Mediziner, selbst langjähriger Kreisverbandsarzt beim DRK, geht mit gutem Beispiel voran, und wird Mitglied in allen drei Organisationen. Damals für viele undenkbar. Für seine Verdienste um das Bielefelder Rettungswesen erhält Korth 2007 das Bundesverdienstkreuz. Er selbst sagt: &bdquo;Mir ging es immer um die Sache.“ Die Übergänge zwischen Beruf, Privatem und Ehrenamt sind im Leben des langjährigen Leiters des Notarzt-Standorts am EvKB in Gilead fließend. Der Vater von zwei Kindern ist in Bethel Oberarzt der Klinik für Anästhesie, Notfall- und Intensivmedizin. Die Ausbildung für Rettungsassistenten und nun auch für Notfallsanitäter aus ganz Ostwestfalen-Lippe (OWL) stellt er seit 1991 als Ärztlicher Leiter der Bielefelder Rettungsdienstschule neu auf. Sie gilt heute als eine der modernsten und renommiertesten Ausbildungsstätten ihrer Art in ganz Deutschland. Lesen Sie dazu: Deutschlands größte und modernste Rettungsschule steht in Bielefeld Ein volles Berufsleben also, neben dem es dem gebürtigen Lübbecker dennoch gelingt, sich ehrenamtlich intensiv zu engagieren – auch als Experte im Katastrophenschutz und Notfallmediziner bei Großveranstaltungen. Korth sagt: &bdquo;Ich gehe immer hin, wo ein Arzt gebraucht wird.“ So war es auch am 24. Juli 2010. So erlebte der Notarzt die Loveparade-Katastrophe Mit einer Versorgungseinheit des ASB fährt Korth damals mit zur Loveparade nach Duisburg. &bdquo;Bei derartigen Großveranstaltungen kriegt man die medizinische Versorgung nicht mit den Kräften vor Ort geregelt. Wir waren in einer Schule in der Nähe auf Abruf untergebracht. Dann passierte das Unglück.“ Er und sein Team hätte am Anfang überhaupt keine Informationen gehabt. &bdquo;Die Kommunikation war zusammengebrochen. Wir wussten überhaupt nicht, was genau los war, dass es eine Massenpanik mit Toten und Verletzten gegeben hatte.“ Lesen Sie auch: Loveparade-Katastrophe: Bielefelder Helfer am Unglücksort Als Korth mit seinem Team mit zwei Rettungswagen und zwei Krankenwagen vor Ort ankommt, erlebt er, was er &bdquo;eine klassische Chaosphase“ nennt. &bdquo;Es gab keine Führung, keine Leitung und man hat auch nichts gesehen. Nur ein anderer Notarzt war vor uns da. Du stehst da mittendrin und kannst nur umschalten auf das, was du gelernt hast.“ Weil die Wagen nicht durchkommen, geht Korth zu Fuß in die Menschenmenge im Straßentunnel, der aufs Festivalgelände führt. &bdquo;Du hast nur den Rucksack mit deinen Sachen auf dem Buckel dabei und wenn der leer ist, ist der leer.“ Bilder der ersten Geburt begleiten ihn bis heute Doch viele der Opfer der Massenpanik, die Korth vorfindet, sind so schwer verletzt, dass jede Hilfe zu spät kommt. 21 Todesopfer, mehr als 650 Verletzte werden es später sein. Auch eine Bielefelderin kommt bei der Loveparade ums Leben. Nur eine Person hätten er und sein Team lebend aus dem Tunnel holen können, erinnert sich Korth. Hat sie überlebt? &bdquo;Ich habe zum Glück niemanden persönlich gekannt und kümmere mich oft bewusst nicht darum, was hinterher aus den Leuten wird, denen ich geholfen habe.“ Aus Selbstschutz. Denn Einsätze mit Schwerstverletzten und Toten sind sein Alltag. Zum Thema: Mutter von Bielefelder Loveparade-Opfer: &bdquo;Mit jeder Verhandlung stirbt mein Kind noch einmal“ Was fürchtet jemanden, der tagtäglich mit dem Schlimmsten konfrontiert wird? Eingeprägt hätten sich Bilder von Einsätzen, bei denen Ausbildung und Erfahrung an Grenzen stießen, sagt Korth. Wie die erste Geburt in seiner Zeit als Notarzt. &bdquo;Diese erste Entbindung war auf einer Toilette. Ich sehe noch immer den Vorleger aus blauem Frottee vor mir.“ Bei der Geburt sei alles gut gegangen. Trotzdem hat Korth seitdem jede Entbindung in seinen 37 Jahren als Notarzt gezählt: 29 waren es. &bdquo;Nicht einmal eine Geburt im Jahr.“ Zu wenige für eine Retter-Routine. Als Arzt bei der Europameisterschaft im Einsatz Am 19. Juni hat Korth seinen letzten Dienst im Notarzteinsatz am EvKB absolviert, zusammen mit seiner Tochter. Sie ist als Notfallsanitäterin in seine Fußstapfen getreten. Er selbst würde heute wohl nicht mehr Arzt werden, meint Korth, der zunächst Jugendpastor hatte werden wollen. &bdquo;Meine Noten wären heute zu schlecht. Damals konnte ich mit Wartezeiten meinen Zeugnisdurchschnitt senken.“ So habe es gerade fürs Medizinstudium in Münster gereicht. Im Juli beginnt der Ruhestand, doch zur Ruhe kommen wird Korth nicht. &bdquo;Ich werde jetzt nicht anfangen zu reisen“, meint er schmunzelnd. Er freue sich zwar auf mehr Zeit mit der Familie, der kleinen Enkelin und für sein Hobby, das Drechseln. Das sei alles zu kurz gekommen. Aber er will auch weitermachen: als Telenotarzt im Bielefelder Rettungsdienst, als Notarzt-Verstärkung bei der aktuellen Europameisterschaft, als Notarzt im ländlichen Raum auf Honorarbasis. Denn Leute wie Michael Korth fehlen überall.

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