Einmalig in Bielefeld: Neue Ambulanz berät bei Konflikten um das eigene Geschlecht

Bielefeld. Wer bin ich – eigentlich? Die Identitätsfindung in der Pubertät ist für alle Heranwachsenden ein wichtiges Thema. Zur großen Herausforderung wird sie, wenn sich junge Menschen nicht zu Hause fühlen im eigenen Körper. Wenn etwa ein Junge das Gefühl hat, im falschen Körper zur Welt gekommen zu sein und eigentlich ein Mädchen zu sein oder umgekehrt, auch wenn sich junge Leute keinem der beiden Geschlechter wirklich zugehörig fühlen (non-binär). Wird der Konflikt übermächtig und ist keine Hilfe von Fachleuten in Sicht, können aus den Zweifeln Entwicklungsstörungen, aber auch psychische Erkrankungen resultieren. Auch Symptome wie Essstörungen, Depressionen mit und ohne Suizidalität können auftreten. Im Kinderzentrum Bethel gibt es seit März 2023 eine Anlaufstelle für Jugendliche, ihre Eltern, Erzieher und Lehrer, die hilft, wenn die Geschlechtsidentität Probleme bereitet. Damit stellt sich Bethel den steigenden Zahlen von jungen Menschen mit Geschlechtsdysphorie, also jenen, die Leidensdruck aufgrund von Unstimmigkeiten im Erleben des eigenen Geschlechts aufweisen. &bdquo;Wir sind weit ?und breit die einzige Fachstelle“ Im Fachjargon geht es also um diverse Formen nicht-geschlechtskonformen Erlebens und Fühlens, um die sich Josefin Streden und Inga Knipschild in der kurz &bdquo;Gender-Ambulanz“ genannten Beratungsstelle kümmern. Die Psychologin und Sexualtherapeutin Streden hat allein seit Oktober 2023 rund 100 Neuvorstellungen in der Beratungsstelle erlebt und führt fast täglich zweistündige Erstgespräche. &bdquo;Wenn das biologische Geschlecht und das eigene Erleben von Geschlechtlichkeit nicht übereinstimmen, kann das zu einem hohen Leidensdruck führen“, schildert sie im Gespräch. Manchmal entstehe der auch, wenn das biologische Geschlecht nicht eindeutig und die Geschlechtszuweisung schwierig sei, wie bei Intergeschlechtlichkeit oder Varianten der Geschlechtsentwicklung. Teilweise könne dies schon bei der Geburt sichtbar sein oder erst später im Leben, etwa in der Pubertät. Die Kinder und Jugendlichen, aber auch die oftmals sehr besorgten Erziehungsberechtigten mit mehr Wissen zu versorgen, ihnen Ängste zu nehmen und Varianten des Handelns anzubieten ist ein wichtiges Anliegen der Ambulanz. Deren Dringlichkeit wird deutlich, schaut man auf eine allgemein beobachtete massive Zunahme der Zahlen Ratsuchender. &bdquo;Wir sind weit und breit die einzige Fachstelle, die solche Hilfen anbietet“, schildert Streden. Die nächste Gender-Ambulanz befinde sich an der Uniklinik in Münster, mit Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. &bdquo;Zu uns kommen sogar Menschen aus Niedersachsen“, berichtet die Fachfrau. Offener Umgang führte zur Entstigmatisierung Woher rührt die Zunahme der Betroffenen? Hat sie etwas mit den medialen Einflüssen durch Social Media zu tun? Und ist das Gefühl, &bdquo;falsch“ in der Geschlechtszuschreibung zu sein, am Ende ein Hype, eine Modeerscheinung? Diesen weit verbreiteten Interpretationen erteilen die Fachfrauen schnell eine deutliche Absage. Allenfalls, sagen sie, trage der offene Umgang mit dem Thema zur Entstigmatisierung bei und gebe den Jugendlichen Mut, sich zu outen, sich Unsicherheiten zu stellen und Rat zu holen. Gleiches gelte für die Eltern und Betreuer. Dass es in den Sozialen Medien dennoch teils halbwahre, sensationsheischende und wenig hilfreiche &bdquo;Plattformen“ und Beiträge zum Thema gibt, dementieren beide nicht. Umso wichtiger sei die sachliche Aufklärung und Hilfe für die oftmals verunsicherten Menschen. Streden, die zuvor acht Jahre lang in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, stellte dort fest, dass nicht wenige suizidale Krisen von Jugendlichen Folgen ihres inneren Kampfes mit ihrer Geschlechtsidentität waren. Die Anliegen der Ratsuchenden sind sehr unterschiedlich: &bdquo;Manchmal sind es ganz praktische Fragen, wie etwa, welcher neue Name und Pronomen gewünscht sind und wie das in Schule, Verein oder Freundeskreis vermittelt werden kann“, schildert Knipschild. Oder es meldeten sich Lehrer, die wissen wollen, ob sie auch ohne Erlaubnis der Eltern ein Kind beim Wunschnamen nennen dürfen. Andere Schulen stehen vor dem Problem, wie sie die Toilettennutzung oder den Sportunterricht mit nicht-binären Kindern regeln sollen. Aber es gebe auch viele Ängste: &bdquo;Viele Eltern haben die Sorge, dass sie den Wunsch, das Geschlecht zu ändern, noch verstärken, wenn sie dem Namenswunsch des Kindes nachkommen.“ &bdquo;Frühe Hilfe ist besser für die Lebenszufriedenheit“ Manche hofften, dass sich die Empfindung, im falschen Körper zu stecken, schon noch &bdquo;verwachse“, wenn man eine Weile abwarte. Streden hat beobachtet: &bdquo;Bei vielen läuft gleich ein Film ab, wenn sich das Kind outet. Sie denken an eine steinige Zukunft, an unerfüllbaren Kinderwunsch, unumkehrbare Hormonbehandlungen oder geschlechtsangleichende OPs, an Leid und Häme seitens intoleranter Öffentlichkeit. Dabei wollen viele Jugendliche überhaupt erst mal ins Erleben eines für sie passenderen Geschlechts kommen. Es ist eine Art Validierungsprozess. Längst nicht alle wollen in ein anderes binäres Geschlecht wechseln“, so Knipschild. Die Sorge vor irreversiblen Folgen einer Hormontherapie kontert die Leiterin der Ambulanz und gibt zu bedenken: &bdquo;Wenn man Jugendliche durch eine Pubertät schickt, die sich für sie als falsch erweist, hat das auch unumkehrbare Folgen.“ Besser für die Lebenszufriedenheit sei es, den Jugendlichen früh zu helfen. Studien besagten, deren psychische Gesundheit weiche dann nicht mehr von denen ihrer Altersgenossen ab. Beide Fachfrauen raten Erziehern daher davon ab, &bdquo;auf Zeit zu spielen“. Nur weil Jugendliche nicht volljährig seien, heiße das nicht, dass sie nicht urteilsfähig seien. &bdquo;Auch Kitakinder können schon in sehr jungem Alter sagen, wie sie sich fühlen“, sagt Streden und erinnert an fussball begeisterte Mädchen und an Jungs, die gerne mit Barbie spielen und die Farbe Rosa lieben. &bdquo;Längst nicht alle wollen ihr binäres Geschlecht wechseln“ &bdquo;Letztendlich sind wir es, die die Kinder mit unseren Vorstellungen von Geschlecht begrenzen und Leid verstärken können.“ Ziel der Ambulanz sei es, den Ratsuchenden zu einer informierten Entscheidung zu verhelfen. Aber nicht, unbedingt aktiv einzugreifen. Beide Fachfrauen sind überzeugt, dass es sich lohne, umzulernen und Kinder nicht in heteronormative Muster zu drängen. Und schließlich: &bdquo;Viele Menschen haben Probleme mit ihrer Geschlechtsidentität. Unsere Aufgabe ist es, zu erkennen, ob eine bleibende Thematik vorliegt, und herauszufinden, was das Leiden lindert.“ Manche Kinder zeigten Auffälligkeiten, dann sei es wichtig, darüber zu informieren, dass die Symptome eine Reaktion auf die Belastung sein können. Für Familien sei es oft schwer, den Wunsch des Kindes anzuerkennen, als ein anderes Geschlecht wahrgenommen zu werden: &bdquo;Identität ist etwas, das man nicht sehen kann, deshalb ist es so schwer für das Umfeld, es zu akzeptieren“, sagt Knipschild. &bdquo;Man muss Jugendlichen einen Experimentierraum anbieten“ Auch dem zurzeit populären Vorwurf, die aktuelle Bundesregierung befeuere einen Boom des Themas, wodurch junge Leute viel zu schnell Tatsachen schafften, erteilen die Psychologinnen eine Absage: &bdquo;Es ist gut, dass sich im politischen Raum ein Paradigmenwechsel vollzogen hat“, schildert Streden. Transsexualismus sei noch bis vor einigen Jahren eine psychiatrische Diagnose gewesen, was den Leidensdruck der Betroffenen weiter erhöht habe. Heute müssten sich die Menschen nicht mehr verstecken – ein großer Fortschritt. Auch die politische Initiative für eine vereinfachte Personenstandsänderung Minderjähriger sehen die Frauen positiv: &bdquo;Vielen reicht das völlig aus, sie kommen ohne Hormontherapie oder aufwendige OPs zur Geschlechtsangleichung aus. Aber man muss ihnen einen Experimentierraum anbieten, in dem sie das herausfinden können.“

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