„Situation in Bielefeld ist eigentlich illegal“: Gesamtschulen kämpfen um ihre Existenz

Frau Hoppe, die Halbjahreszeugnisse sind bei vielen Schülern mit großen Ängsten verbunden. Und die Gesamtschulen bekommen jetzt von etlichen Schulen E-Mails mit Schülernamen, die womöglich abgeschult werden. Nicht nur der Begriff ist schlimm, oder? Claudia Hoppe: Ein hochbrisantes, absolut leidiges Thema, das immer mehr Kinder betrifft und, wie Studien belegen, ein sehr negatives und einschneidendes Erlebnis für sie ist. Nachdem sie sich am Gymnasium oder an der Realschule eingelebt haben, dürfen sie dort am Ende der Erprobungsstufe, nach Klasse 6, nicht weiter bleiben. Die Versagerperspektive, die sie da - oft schon nach einer Klassenwiederholung - erleben, macht vielen stark zu schaffen. Sie gehen als Looser. Seit es seit dem Schuljahr 2022/23 in Bielefeld keine Hauptschulen mehr gibt, landen deutlich mehr Kinder, die es an der Realschule nicht mehr schaffen, an den Gesamtschulen. Was bedeutet das für Sie? Diese Situation in Bielefeld ist tatsächlich besonders - und eigentlich illegal. Im Schulgesetz heißt es sinngemäß, dass Realschüler, die die Erprobungsstufe nicht schaffen, an die Hauptschule wechseln. Aber die integrierten Gesamtschulen haben keinen Hauptschulbildungsgang. Hier bei uns ist lange offen, welchen Abschluss ein Schüler am Ende macht. Die Heterogenität, je ein Drittel Kinder mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialempfehlung, hat so keine Chance mehr. Dabei ist genau diese Heterogenität die DNA unserer Schulform. Durch die Abschulungsdynamik gibt es einen großen Homogenisierungsprozess, der diese DNA angreift. Was könnte denn da helfen? Mit den beiden Neubauten, die die Gesamtschule Rosenhöhe und die Martin-Niemöller-Gesamtschule jetzt bekommen und in die die Stadt mit Abstand die größten Summen investiert, scheint es definitiv nicht getan zu sein? Da hat das Schulgesetz eine Lösung: Kommunen, in denen es keine Hauptschulen mehr gibt, können für die Realschulen einen Hauptschulbildungsgang beantragen. So würden die Schüler dort weiter bleiben. Schüler, die ihr Gymnasium verlassen müssen, gehen an die Gesamtschule, an der sie sich nicht vom Ziel des Abiturs verabschieden müssen. Aber das, was das Gesetz ermöglicht, scheint hier nicht gewollt. So werden die Gesamtschulen sehenden Auges zu Hauptschulen, die aber wurden als Restschulen geschlossen. Jetzt im Februar melden Eltern die jetzigen Viertklässler für die weiterführenden Schulen an. Laut Anmeldezahlen der vergangenen Jahre sind in Bielefeld die Gesamtschulen da die letzte Wahl? Alle Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind und es ist schade, dass für viele die Gesamtschule anscheinend erst einmal nicht in Betracht kommt. Viele wissen beispielsweise nicht, dass wir hier dasselbe Zentralabitur machen wie am Gymnasium. Und das sehr erfolgreich. Obwohl wir viele Kinder mit Hauptschulempfehlung aufnehmen, machen bis zur Hälfte eines Jahrgangs später bei uns ihr Abitur. Und das mit den Zahlen ist so eine Sache: Schaut man sich lediglich die Anmeldungen im Jahrgang 5 an, kann man den Eindruck haben, dass man uns vernachlässigen kann. Aber ab Jahrgang 7 aufwärts haben wir oft mehr als doppelt so viele Schüler als zum Start. Entweder weil die Eltern erkennen, dass ihr Kind besser an einer Gesamtschule aufgehoben ist, am häufigsten aber aufgrund der vielen Abschulungen. Erst dann werden die vielen guten Seiten, die das Lernen an der Gesamtschule ausmacht, gesehen. Den Kindern wird mehr Zeit für ihre Entwicklung gelassen, sie können - außer von 9 in die 10 - nicht sitzen bleiben. Damit entfällt ein ganz großer Stressfaktor, der nicht zu unterschätzen ist. Das wird nach der Coronazeit noch einmal besonders deutlich. Machen Sie einfach mal ordentlich Werbung: Womit punkten die Gesamtschulen noch? Gesamtschulen haben eine Kultur des Behaltens: Jedes Kind, das bei uns aufgenommen wird, verbleibt hier bis zum Schulabschluss. Gesamtschulen geben mehr Zeit für das Lernen, sie fördern und fordern. Sie haben alle einen rhythmisierten Ganztag, in dem die Schüler ihren individuellen Interessen und Neigungen nachgehen können. Erst am Ende wird entschieden, welcher Schulabschluss erreicht wird, denn im Jahrgang 7 beginnt aufsteigend die sogenannte Fachleistungsdifferenzierung, mit der Schüler in den Hauptfächern Grund- und Erweiterungskursen zugeordnet werden. Die Heterogenität, von der viele glauben, sie unterfordere leistungsstärkere Schüler, kommt aber nicht nur den Leistungsschwächeren zugute. Wenn lernstarke Schüler als Experten ihren Mitschülern den Unterrichtsstoff erklären, profitieren auch sie, weil sie das Gelernte modellieren, in meist einfachere Sprache übersetzen, dadurch ihr Wissen neu organisieren und noch einmal nachhaltig festigen. Zudem wird in der Begegnung mit Verschiedenheit auch ihre Persönlichkeit gestärkt. Viele Arbeitgeber schätzen die sogenannten Softskills oder Schlüsselqualifikationen, die Gesamtschüler mitbringen. Die grundsätzliche Frage ist ja auch, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wollen wir die Milieus untereinander abschotten und uns mit der ungerechten Verteilung von Bildungs- und Lebenschancen abfinden? Oder gestalten wir eine offene und bunte Stadtgesellschaft, in der die Lebenschancen nicht von der sozialen Herkunft abhängen? Viele Eltern ignorieren ja auch die Schulformempfehlung. Wie stehen Sie dazu? Aus meiner Sicht sind die Empfehlungen wenig wert. Ich kann mir gut vorstellen, dass Grundschulen die leistungsstarken, sehr auf Lernen und Neues orientierten Schüler erkennen, die ganz viel Selbstdisziplin und Eigeninitiative zeigen. Von denen viele sagen würden, das sind die typischen Gymnasiasten. Gymnasien bestätigen die Prognosekraft der Schulformempfehlungen. Sie kritisieren ja häufig, dass die Empfehlungen der Grundschulen von Eltern ignoriert werden. Wir als Gesamtschulen können das nicht bestätigen, sonst würden wir nicht so viele Abiturienten hervorbringen. Erwiesen ist, dass der Zeitpunkt für die Einschätzung auf jeden Fall viel zu früh ist. Der Umgang und die Klientel an der Schule ist für Eltern auch ein Argument fürs Gymnasium. Was sagen Sie dazu? Der Ton auf dem Pausenhof ist überall rauer geworden, nicht nur an den Gesamtschulen. Das beklagen alle Schulformen. Der Vorteil der Gesamtschule ist, dass unsere Schüler den Großteil des Tages bei uns verbringen und die Klassenleitungen und Schulsozialarbeit weit mehr Erziehungsarbeit als an anderen Schulformen leisten. Sie arbeiten sehr eng mit den Familien zusammen und können vieles auffangen. Zur Person: - Claudia Hoppe (63) leitet seit 2012 die Gesamtschule Rosenhöhe und ist Sprecherin der Schulform für Bielefeld. Zuvor hat sie unter anderem als pädagogisch Mitarbeiterin im Schulministerium und in der Projektleitung &bdquo;Selbstständige Schule“ bei der Bertelsmann-Stiftung gearbeitet. - Sie hat Lehramt mit den Fächern Pädagogik, Deutsch und Sozialwissenschaften studiert und unterricht diese nach Bedarf an ihrer Schule. Zudem leitet sie dort zurzeit die Häkel- und Strick-AG. E-Bike fahren, Nordic-Walking und Gartenarbeit sind ihre Hobbys. - Hoppe kommt gebürtig aus dem Sauerland, hat eine Tochter und lebt mit ihrer Familie in Bielefeld-Babenhausen.

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