
Bielefeld. Es ist einer der schwierigsten Momente im Leben, wenn von Krebs Betroffene ihre Diagnose erfahren. Das Klischee stimmt offenbar: den Meisten zieht es schlichtweg den Boden unter den Füßen weg. Denn zu Beginn wissen sie nur, dass sie eine potenziell tödliche Krankheit haben. Von Ausdehnung und Aggressivität haben sie oft anfangs keine Ahnung. Erst einige Untersuchungen später können sie sich ein genaueres Bild von ihrer Krankheit machen – und von ihren Chancen auf Heilung.
Auch Bettina Rössiger musste den Moment erleben, der alles ändert – und das gleich zwei Mal. 2011 war der Tumor in ihrer Brust klein, der Zellbefund „überschaubar“. Sie kam ohne Chemotherapie, nur mit einer kleinen OP, Strahlentherapie und fünfjähriger Medikation mit Antihormonen davon.
Erschütterte Reaktionen aus dem Umfeld helfen nicht
2020 dann der Rückfall. Besser gesagt, die Neuerkrankung. Dieses Mal war sie deutlich aggressiver. Am Ende erlebte die heute 60-Jährige die Amputation (Mastektomie) beider Brüste, die Entfernung der Eierstöcke und eine monatelange, anstrengende Chemotherapie. Sie erhielt zudem ein neuartiges Antikörper-Studienmedikament und führt bis heute die nebenwirkungsreiche Behandlung mit Antihormonen fort, die das Wachstum entarteter Zellen hemmen soll.
Hinter den Fakten steht der Mensch Bettina Rössiger: Ehefrau, Mutter zweier erwachsener Kinder, Unternehmerin mit einem Fahrdienst für Stretchlimousinen, begeisterte Hundehalterin. Sie kennt die Bücher, die sich mit ihrer, der häufigsten Krebserkrankung von Frauen (und wenigen Männern), beschäftigen. Der Ratgeber- und Betroffenenberichte zum Thema Brustkrebs gibt es viele.
Doch im Meer der Betroffenheitsliteratur mit all ihren Klischees rund um den nach Überlieferung stets entschlossen geführten „Kampf gegen den Feind“, mit rustikalen Personifizierungen eines Tumors als „Biest“ und „Mister Black“ fehlte ihr ein Buch, das beschreibt, wie sehr das Umfeld der Erkrankten in Mitleidenschaft gezogen wird, ein Buch über die gesamte Dimension der Krankheit. Außerdem eines mit einem laienverständlicher Erklärteil medizinischer Fachbegriffe, einer ausführlichen und persönlich gehaltenen Beschreibung von Behandlungswegen.
Drastische, aber sicherheitsbewusste Entscheidung
Am Anfang stand eine Art von „Chemo-Tagebuch“, in dem Rössiger chronologisch alles notierte, was während ihrer Behandlung passierte. In dem sie die Schmerzen, die Schwäche und Übelkeit festhielt, aber auch, wenn es in den Therapie-Zyklen wieder aufwärts ging. Auch die Beschreibung hilfreicher Begegnungen überall auf ihrem Weg, insbesondere in den Kliniken und Praxen, fand Eingang in ihren Bericht.
Zunächst nur für sich selbst aufgeschrieben, dann schlug eine Freundin vor, die Erfahrungen anderen Betroffenen zugänglich zu machen. Im Stuttgarter Verrai Verlag ist die Geschichte der Quellerin unter dem rustikal klingenden Titel „Auf Brüsten muss man nicht laufen“ in diesem November erschienen.
Aber noch etwas stachelte Rössigers Motivation zur Veröffentlichung an, erkennbar am Titel: Sie war erschrocken darüber, wie viele Menschen in ihrem Umfeld und selbst in den Gesundheitsbetrieben geradezu erschüttert auf die Amputation ihrer Brüste ohne einen Wiederaufbau mit Silikonimplantat oder Eigengewebe reagierten. Zugegeben, sagt sie, es sei eine eher drastische Maßnahme, aber auch eine überlegt getroffene, sicherheitsbewusste Entscheidung.
„Ich möchte nicht? wie ein rohes Ei behandelt werden“
Sie hatte sich dazu entschieden, nachdem entsprechende Untersuchungen ergaben, dass man bei ihr eine Genveränderung vorfand (das so genannte BRCA2-Gen), die auf eine familiäre Neigung zu Tumorerkrankungen hindeutet. „Es gab Menschen, die mir unter Tränen ihr Bedauern über den Verlust meiner Brüste ausdrückten“, schildert sie noch heute mit einem gewissen Unverständnis.
Oft habe sie direkt oder indirekt vermittelt bekommen, dass sie doch nun „keine richtige Frau mehr“ sei, dass sie das doch ungeheuer belasten müsse. „Das Thema wird enorm problematisiert. Dabei schaut keiner mehr darauf, dass die Amputation einer Brust für die meisten Erkrankten das kleinere Übel ist.“
Selbst eine Krankenschwester im Hospital habe ihr Mitleid nicht verbergen können, worauf Bettina Rössiger ihr riet: „Gehen Sie doch mal drei Etagen höher und schauen sich auf der Gefäßchirurgie die beinamputierten 40-Jährigen an. Die haben ein Problem.“ Sie möchte nicht wie ein „rohes Ei“ behandelt werden, im Gegenteil: „Ich hatte das Gefühl, ich bin endlich dieses kranke Gewebe los und werde wieder gesund“. Und mit Nachdruck: „Ich wollte leben.“ Sie will mit ihrem Buch Mut machen, Ängste vor der Therapie nehmen und vermitteln: Es gibt große Fortschritte in der Behandlung dieser doch so häufigen Krebsart.
„Habe mir zum 60. Geburtstag dieses Buch geschenkt“
Und es gibt fantastische Ärzte, die sich genau auskennen mit den Tücken der Krankheit. Die sich mit ganzem Können und Herzen in den Dienst der Frauen stellen. Manchmal hilft dabei eine Prise schwarzen Humors. Solche Ärzte, die sie in ihrem Buch immer wieder erwähnt, seien eine Wohltat. Zum Glück sei sie ein optimistischer Mensch. Sich in die Details der Therapie einzuarbeiten, habe ihr bei der Bewältigung geholfen.
Im April 2022 hatte Rössiger ihre letzte Behandlung, Dass man ihr den Krebs nie „ansah“, selbst als alle Haare ausfielen, sei ihr wichtig: „Ich bin die akkurate Mogelpackung, mit Schminke, flotten Mützchen oder Perücke, gepflegtem Äußeren“, sagt sie und lacht. Selbst während der Chemotherapie übernahm sie Fahrdienste mit der Stretch-Limousine, wenn es ihr Befinden zuließ. So etwas gelte nicht für jede(n), weiß sie. Für sie sei es der richtige Weg gewesen, der zur Heilung beitrage.
Unendlich dankbar ist Rössiger für die Unterstützung durch ihre liebevolle Familie. Und die der beiden Hunde, die ihr in dunklen Stunden mit Unbefangenheit durch den Tag halfen. Sie werfe einen anderen Blick aufs Leben nach alldem, sagt sie: „Es gibt neue Wertigkeiten. Und ich trenne mich von Energieräubern“, sagt sie. Zum 60. Geburtstag in diesem Herbst habe sie sich das Buch geschenkt. Sie hofft, dass es anderen weiterhilft.
- Bettina Rössiger: „Auf Brüsten muss man nicht laufen“, Verrai Verlag, 2023, ISBN: 978-3-948342-98-2.