"Stimmung ist gekippt": Dezernent spricht Klartext über Migration in Bielefeld

Bielefeld. Geflüchtete - das Thema bewegt die Menschen derzeit enorm. Sozialdezernent Ingo Nürnberger: "Es ist so aktuell wie lange nicht mehr." Er, der SPD-Mann, folgte wohl auch deswegen der Einladung der Initiative "Altenhagen weltoffen". Stellte sich Fragen. Zeigte sich nachdenklich, aber deutlich - und durchaus unbequem: "Ja, die Stimmung kippt." Nein, korrigierte er sich: "Sie ist gekippt. Sie ist schlecht." "Müssen uns ehrlich machen" Er werde - im Handeln - die aktuellen Wahlergebnisse mit politisch immer stärkeren Rechten nicht ignorieren. "Die Ergebnisse sind relevant - und es gibt ja auch objektive Probleme." Nürnberger sieht ein Spannungsverhältnis zwischen der Haltung "Einwanderungsfreundlich und offene Grenzen" und dem Rechtsstaat, dem Sozialstaat, der liberalen Demokratie. "Alles gleichzeitig wird es nicht geben", so Nürnberger. "Wir müssen darauf reagieren und uns ehrlich machen, wir müssen Güter abwägen." Das heiße nicht, Prinzipien komplett aufzugeben: "Ich werde auch nicht zum Rechten, nur weil andere rechts wählen." Doch auch er führe Debatten, "die vor drei Jahren so noch nicht denkbar waren in Europa" - so um Aufenthaltszentren, Grenzschutz, sichere Herkunftsländer. Nürnberger: "Wir müssen als Demokraten die Stimmung wahrnehmen und akzeptieren, ich bin nicht bereit, die Demokratie und den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu gefährden." 2022 fast doppelt so viele Geflüchtete Immerhin aber stehe Bielefeld oft noch gut da, sei die Stadtgesellschaft noch in vergleichsweise ruhigem Fahrwasser unterwegs. Aber es sei eindeutig, dass immer mehr Menschen im Alltag spüren würden, dass der Wohlstand schmelze, Probleme größer würden. Zahlen zum Thema: 2022 seien fast doppelt so viele ausländische Staatsangehörige nach Bielefeld gekommen wie in den Jahren zuvor (13.400 statt gut 7.000). Im Bereich Bildung entstehe daraus nun eine gewaltige Herausforderung. Da 4.200 der Menschen, die 2022 nach Bielefeld kamen, unter 18 Jahren waren, 1.300 sogar unter 7 Jahren, gehe es um mehr als 100 Schulklassen und mehr als 70 Kita-Gruppen. Jetzt wechselten viele der Schülerinnen und Schüler aus den Internationalen Klassen in den Regelbetrieb. Wegen sprachlicher Defizite werde der Weg oft in eine Hauptschulempfehlung führen, "und dann sind wieder genau die Schulen gefordert, die schon seit Jahren große Herausforderungen haben - sie werden die Hauptlast tragen müssen". Nürnberger: "Das nächste Schuljahr wird nicht schön." Dabei sieht er in den jungen Menschen nicht nur "eine Riesenherausforderung, sondern auch eine Riesenchance". "Nicht nur Stimmungsmache" Nürnberger ist nachdenklich, spricht Klartext: "Es ist nicht nur die Bild-Zeitung, es ist nicht nur Stimmungsmache, nein, es ist tatsächlich eine Herausforderung." Es gebe eine starke Zuwanderung, und viele merkten jetzt, "dass Integration eine richtig große Aufgabe ist". Noch habe nicht jeder direkt gespürt, welche Lasten zu tragen seien - aber das werde nun immer stärker sichtbar. "In volleren Klassen." In Klassen, in denen es sprachlich noch schwieriger werde. Lehrer fehlten, Gelder fehlten, Sprachkurse gebe es zwar so viele wie noch nie, aber nicht genügend, vor allem nicht im niederschwelligen Bereich und direkt an Schulen angebunden. Nürnberger: "Die meisten Menschen wollen Deutsch lernen, die Ukrainer oft so schnell wie möglich." Nicht jeder aber schaffe es, "manche auch psychisch nicht". Die Schulsozialarbeit werde ausgebaut. Alle seien am Limit, stießen an Grenzen. Nürnberger: "Ich bin nicht dafür, die Schotten dicht zu machen, aber uns muss klar sein, dass das ein Thema mit Problemen ist, die zu Lasten anderer gehen, viele werden es spüren." Kitas und Schulen unter Druck Auch in den Kitas. Eine Erzieherin: "Die Stimmung kippt schon jetzt in unserem Team, wir haben Kinder ohne Deutschkenntnisse, traumatisierte Kinder - und es fehlen Fachkräfte." Nürnberger weiß das, kann aber Probleme nicht auf Knopfdruck lösen. Schulen, Kitas, soziale Arbeit? "Es ist nicht so sehr das Geld, sondern vor allem die Frage: Wer macht die Arbeit?" Der Weg sei steinig und lang, er werde von Qualitäts- und Wohlstandsverlusten geprägt sein. Eine Hilfe sei das noch immer starke Ehrenamt, das aber auch etwas am bröckeln sei. Trotzdem: "Dass es in Bielefeld noch so friedlich ist, hat auch mit Leuten wie Ihnen zu tun", würdigte er den 2015 gegründeten Verein." Nürnberger: "Deshalb werden wir als Stadt auch wieder mehr fürs Ehrenamt tun müssen." Bielefeld noch relativ gut unterwegs Unter dem Strich laufe es in Bielefeld vergleichsweise gut, das Jobcenter mache einen guten Job, die Soldatenwohnungen waren ein Glücksfall. "Ohne sie hätten wir monatelang Turnhallen belegen müssen." Dank vieler Landeseinrichtungen habe Bielefeld kaum Zuweisungen, Menschen in Landeseinrichtungen würden künftig sogar eins zu eins angerechnet, was den Druck für einige Monate etwas rausnehme. Städtisch untergebracht seien derzeit gut 2.100 Menschen, davon knapp 800 in Soldatenwohnungen. Weitere jeweils etwa 50 lebten im Rütli sowie an der Eisenbahnstraße sowie 1.200 in Übergangswohnungen - diese drei Bereiche hätten noch Kapazitäten für zusammen 400 Menschen. Weitere 400 seien im Extremfall noch an derzeit aufgegebenen Standorten wie Laborgebäude und Handwerkerbildungszentrum denkbar. "Ganz viele gestresste Menschen" Doch was ist nun mit der politischen Stimmungslage, woher kommt sie? Nürnberger sieht "ganz viele gestresste Menschen". Gestresst von Krisen; seit 2008. Banken, Zuwanderung, Corona, Krieg - und wieder starke Zuwanderung. Dazu Klima, Bildung, Energie, Wohnen. Plus eine Bundesregierung, die auch ihn manchmal "echt verunsichert". Aus seiner Sicht ist in diesem Krisen-Durcheinander nicht die Zuwanderung selbst das Problem, "sie bringt aber viele Probleme in den sichtbaren Bereich". Folge: Eine Zeit einfacher Sätze, einfacher Logik. "Das ist nicht gut."

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