Folge der Corona-Einschränkungen: Mehr Menschen in Bielefeld leiden psychisch

Bielefeld. Die Schlagzeilen nach Pandemie-Ende klingen ganz ähnlich: Corona und seine Eindämmungsmaßnahmen haben viele Menschen psychisch krank gemacht. So meldet die Kaufmännische Krankenkasse Hannover (KKH), dass &bdquo;immer mehr Berufstätige seelisch erschöpft“ seien. Den Befund leitet sie aus einer Auswertung der häufigsten Krankmeldungsgründe Berufstätiger ab. Aber ist es wirklich die Corona-Krise, die Menschen seelisch kränker gemacht hat? &bdquo;Ja und Nein“, sagt Martin Driessen, Professor an der Medizinischen Fakultät der Uni Bielefeld und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB). Er erklärt, das weitere Effekte eine wichtige Rolle bei der Zunahme pychischer Erkrankungen spielen. Die KKH ist nach eigenen Angaben mit rund 1,6 Millionen Versicherten eine der größten gesetzlichen Krankenkassen. Im Jahr 2022 habe die Kasse bundesweit rund 57.500 Krankschreibungen mit 2,3 Millionen Fehltagen wegen seelischer Leiden erfasst. Im Vergleich zu 2021 eine Zunahme von 16 Prozent. Und noch eine Information destilliert die Krankenkasse aus ihren Daten: Am stärksten betroffen seien Arbeitende in der Krankenpflege, Erziehung und Sozialarbeit. Zu den häufigsten Diagnosen zählen wiederkehrende Depressionen, Anpassungsstörungen und depressive Reaktionen auf schwere Belastungen, chronische Erschöpfung, Angststörungen. Fast sieben Prozent der Ausfalltage gingen auf das Konto so genannter &bdquo;somatoformer Störungen“, also psychosomatisch bedingter Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen ohne organische Ursache. Außerdem, so die KKH: In der Krise hätten Männer die Frauen vor allem bei den somatoformen Störungen eingeholt. 22 Prozent betrage hier die Zunahme zum Vorjahr bei den Männern, gegenüber sechs Prozent bei den Frauen. Gerade Männer empfinden seelische Krisen häufiger als Stigma, sagt der Bielefelder Psychiater Fordern Pandemie und Eindämmungsmaßnahmen mit ihren Belastungen, mit sozialer Isolation, hohem wirtschaftlichen Druck in bestimmten Branchen und besonderen Belastungen in der Pflege auf diese Weise ihren Tribut? Uniprofessor und Klinikdirektor Driessen sagt, natürlich seien diese Jahre nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen, habe der Spagat zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung enorm gefordert, habe die Sorge um ihre wirtschaftliche Existenz im Lockdown viele gestresst. Doch der Bielefelder Psychiater verweist hier lieber auf die Gesundheitsstudie 2022 der Techniker Krankenkasse. Sie bilde die Dynamik weitaus präziser ab. Ein Überblick der Jahre 2000 bis heute zeigt dort vor allem eines: &bdquo;Die Zahlen der psychiatrischen Diagnosen nehmen seit 2006 kontinuierlich zu“, so Driessen. Dies decke sich mit seinen Erfahrungen im klinischen Alltag: &bdquo;Wir ersticken an Patienten, sowohl ambulant als auch stationär.“ Der Hauptgrund sei ein &bdquo;Demaskierungseffekt“: Das Stigma, an einer seelischen Erkrankung zu leiden, sei auch bei Männern kleiner geworden. In den Abrechnungsdaten würden seelische Krankheiten heute auch als solche benannt. &bdquo;Früher stellten selbst Ärzte wahre Fantasiediagnosen, um Patienten das Stigma zu ersparen.“ Depressionen waren eben chronische Kopfschmerzen oder sie wurden als &bdquo;Burnout“ bemäntelt, der nach beruflichem Übereifer klingt. Probleme haben sich laut Klinkdirektor Martin Driessen während der Pandemie zugespitzt Auch habe sich das &bdquo;Inanspruchnahmeverhalten“ verändert. Betroffene suchten sich heute schneller Hilfe bei Fachleuten. Die Zunahme seelischer Erkrankungen erklärt der erfahrene Psychiater mit den Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft, mit einer enorm verdichteten Arbeitswelt. Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit, stärkere Kontrollmöglichkeiten durch die Firmen mittels erhobener Daten, aber auch konkrete körperliche und seelische Belastungen etwa in Pflegeberufen – das seien gewaltige Stressoren. &bdquo;Viele halten das nicht mehr aus“, fasst Driessen zusammen. Sicher habe die Pandemie die Probleme verstärkt oder sichtbar gemacht – dennoch lasse sich sagen: &bdquo;Wer schon vorher Probleme hatte, hatte sie zugespitzt in der Pandemie.“ Frauen holten sich zudem schneller fachliche Hilfe, darum seien bei ihnen seelische Erkrankungen sichtbarer, weiß der Fachmann. Sie könnten auch besser mit einer psychiatrischen Diagnose leben, doch die Männer holten hier auf. Wie müssten Politik und Gesellschaft, konkret auch die Arbeitgeber mit diesem Befund umgehen? &bdquo;Wir sind in Sachen Prävention nicht gut aufgestellt“, bedauert Driessen, &bdquo;trotz guter Ansätze beim betrieblichen Gesundheitsmanagement“. Die rasanten Veränderungen müssten durch entlastende Schritte kompensiert werden. Fünf-Stunden-Tage, Vier-Tage-Arbeitswoche, stressreduzierende Angebote im Betrieb und eine wertschätzende Unternehmenskultur könnten helfen. &bdquo;Der demografische Wandel wird den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen, mehr für ihre Leute zu tun“, ist sich Driessen sicher.

Meistgelesen