Horror im eigenen Haus: Nachbar macht Bielefelderin das Leben zur Hölle

Bielefeld. Alles fängt an mit dem Umzug in ihre neue Wohnung. Als Lina S. (Namen geändert) in ein Mehrparteienhaus in Hillegossen zieht, ahnt sie nicht, dass jemand nur wenige Monate später mutmaßlich einen Mordanschlag auf sie verüben wird. Als sie im Waschkeller an ihre Waschmaschine tritt, bekommt sie einen Stromschlag – eine perfide Falle. Ein abgeschnittenes Stromkabel ist mit dem metallischen Gehäuse der Waschmaschine verbunden. Bewusstlos bleibt sie liegen. Es ist der Höhepunkt einer monatelangen Eskalation. Die 23-Jährige möchte zum Tag der Kriminalitätsopfer Betroffenen von Stalking eine Stimme geben. Bis heute leidet sie unter den Folgen der monatelangen Nachstellungen. Als sie bei der Arbeit eine Stimme hört, die dem ihres Peinigers zum Verwechseln ähnlich ist, verfällt sie in Schockstarre, ihr bricht der Schweiß aus. Für Stunden ist sie arbeitsunfähig. Eine einzige Stimme - und die ganze Panik ist wieder da Der Stalking-Fall ist bereits zwei Jahre her. Doch die Stimme des Mannes katapultiert die junge Bielefelderin wieder mitten in den Ausnahmezustand von damals – ein sogenannter Flashback. Dabei blickt die Bielefelderin heute positiv in die Zukunft: Sie zog aus dem Haus wieder aus, wohnt heute weit entfernt. Sie hat eine neue Arbeitsstelle und einen tollen Freundeskreis. Den Nachbarn von damals traf sie anschließend noch vier Mal vor Gericht. Eine Tortur für das Opfer. Die Kripo ermittelte nach dem Stromschlag vom 25. Januar 2021 wegen gefährlicher Körperverletzung, außerdem wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz und Beleidigung gegen den älteren Mann. Allerdings wurde er nur für ein paar Beleidigungen verurteilt, sagt Lina S. Viele andere Widerlichkeiten blieben unaufgeklärt. Bis heute sei nicht bewiesen, dass es ihr Nachbar war, der das Stromkabel an ihre Waschtrommel klebte. Im Fall der Stalking-Vergehen wurde er freigesprochen. Der Bielefelder wollte immer wieder Kaffeetrinken Wie fing alles an? Schon am Tag ihres Einzugs im September 2020 zeigt der etwa 70-jährige Nachbar Interesse an der neuen Frau im Haus. Er lädt sich selbst zum gemeinsamen Kaffeetrinken ein. Doch S. hat andere Dinge im Kopf – die Umzugskisten, der Job, die Ausbildung, ihre Freunde. Sie wimmelt den Nachbarn ab. Doch der lässt nicht locker. &bdquo;Irgendwann habe ich ihn dann einmal eingeladen. Damit er Ruhe gibt.“ Doch genau das passiert nicht. &bdquo;Er ließ nicht mehr locker.“ Fast täglich steht er mit Plätzchen vor ihrer Tür. &bdquo;Wenn ich von der Arbeit kam, hatte er mich schon gesehen und erwartete mich im Treppenhaus.“Er schickt ihr auch ständig Filme mit Katzen oder auch mal eine Kaffeetasse mit einem Herzchen im Milchschaum aufs Handy. Schon das empfindet Lina S. als &bdquo;nervig“. Doch als sie eines Tages krank ist und den aufdringlichen Rentner brüsk abweist, reagiert er erstmals beleidigt. Bielefelderin findet "ekelige" Zettel an ihrer Wohnungstür Der Rentner ist von der jungen Nachbarin &bdquo;enttäuscht“ und geht nun zur Attacke über. Bis spät in der Nacht schildert er ihr in Sprachnachrichten, was er von ihrem abweisenden Verhalten hält. Auch ruft er immer wieder an. Lina S. blockiert seine Nummer. Ende November will die 21-Jährige dem Treiben ein Ende setzen: &bdquo;Ich habe ihm persönlich an der Haustür gesagt, dass ich keinen Kontakt mehr will.“ Doch der Nachbar fängt gerade erst an: Zunächst klebt er Zettel an ihre Wohnungstür &bdquo;mit ekeligen, anzüglichen Vorwürfen.“ Auf einem der Zettel steht: &bdquo;Du bist dumm, hässlich und schlicht.“ Am nächsten Tag hängt im Hausflur für alle sichtbar eine Mitteilung, auf der eine &bdquo;Warnung an alle Mitbewohner“ zu finden ist. Er sei sehr enttäuscht von einer Nachbarin, denn sie habe ihm Sex gegen Geld angeboten. Er unterschreibt den Zettel mit Namen und Handynummer. Der Bielefelder Frauennotruf rät früh zur Strafanzeige Ein junger Nachbar findet den Zettel und hängt ihn sofort ab. Er meldet sich bei S. und erklärt, dass auch die anderen Nachbarn den Mann anstrengend fänden. Vor allem sein für alle hörbarer Pornokonsum ärgere viele. Solche Zettel-Attacken kennen die anderen bisher nicht. Die junge Bielefelderin geht daraufhin zum Frauennotruf, wo Expertinnen ihr raten, Anzeige wegen Beleidigung zu erstatten. Außerdem sei es ratsam, ein Kontaktverbot bei Gericht zu erwirken. Daraufhin knöpft sich die Polizei den Nachbarn erstmals vor, er gibt unumwunden zu, dass er der Verursacher der Zettel sei. "Das kommt davon, wenn man ein böses Mädchen ist" Eine Reaktion auf die Anzeige lässt dennoch nicht lange auf sich Warten. Über Nacht werden die Autos von Lina S. und ihrer Mutter ringsherum komplett zerkratzt. Alle anderen Fahrzeuge vor dem Haus bleiben unversehrt. Linas Mutter übernachtet in dieser Phase bei ihrer Tochter. &bdquo;Ich hatte damals erstmals Angst, alleine ins Treppenhaus zu gehen. Ohne Pfefferspray und meinen Hund bin ich nicht mehr vor die Tür gegangen.“ Der Nachbar fühlt sich unfassbar sicher. Nachdem die Polizei den Sachschaden an den Fahrzeugen aufgenommen hat und wieder verschwunden ist, soll er vom Balkon gerufen haben: &bdquo;Das kommt davon, wenn man ein böses Mädchen ist.“ Die sexuelle Komponente seiner Andeutungen machte ihr am meisten Angst. Die 21-Jährige sucht längst nach einer neuen Bleibe. Doch die Angebote sind rar, die Suche zieht sich hin. Dass im Haus eigentlich ein Täter ausziehen müsste, das ist nie ein Thema. Gericht erwirkt Kontaktverbot - doch das hilft nicht Am 18. Dezember verhängt das Gericht ein Kontaktverbot. Der Nachbar darf sich künftig der 21-Jährigen nicht mehr nähern, darf sie weder mit Zetteln noch per Handy kontaktieren. Im Haus muss er zwei Meter Abstand zu ihr und ihrer Haustür halten. Draußen sind es 25 Meter. Doch dem Mann sind diese Verbote egal. Seine Zettel landen jetzt an ihrem Briefkasten. Er klingelt weiterhin bei ihr. &bdquo;In dieser Phase hatte ich panische Angst vor dem Läuten meiner Klingel. Jedes Mal dachte ich: Da steht der Verrückte wieder vor der Tür.“ Lina S. ist nun auch längere Zeit krank. Sie muss ihre Ausbildung abbrechen. Die Polizisten drohen, ihn mitzunehmen - er lernt: Ich kann machen, was sich will Ende Januar kommt es zur Eskalation. An der Waschmaschine wartet eine tödliche Falle. Völlig verwirrt wacht Lina S. nach dem Stromschlag wieder auf. Arm und Kopf schmerzen. Ihr ist übel. Als sie den Sanitätern von ihrem Stalker berichtet, schalten die ziemlich schnell und verständigen die Polizei. Die Beamten finden das manipulierte Kabel, das am Gehäuse ihrer Waschmaschine klebt. Kripo und Spurensicherung nehmen die Ermittlungen auf. &bdquo;Die haben mir gesagt, dass die Strommenge ausgereicht hat, um tödlich zu sein.“ Die Kripo ermittelt im Fall der Bielefelderin Ilse Haase vom "Weißen Ring“ betreut Lina S. während der ganzen Zeit, bis hin zu den Gerichtsverfahren. Die Opferschützerin rät ihr, die eigens für solche Fälle entwickelte No-Stalk-App zu nutzen. Ein Alarmton-Button soll im Notfall helfen. Außerdem lassen sich alle Verstöße und Übergriffe per Handy dokumentieren und chronologisch abspeichern. Die Daten bleiben nicht auf dem Handy und werden verschlüsselt auf einem Server des Weißen Rings gespeichert. &bdquo;Dadurch können keine Beweise verloren gehen“, erklärt Haase. Etwa, wenn ein Handy kaputt geht, oder sogar wenn der Täter sich des Gerätes bemächtigt. Der Weiße Ring hat sich lange Jahre dafür eingesetzt, dass Stalking als Straftat anerkannt wird und auch Therapien für die Opfer anerkannt werden. Doch die lückenlose Dokumentation hilft im Fall von Lina S. genauso wenig wie das gerichtliche Annäherungsverbot. In dem Waschkeller lassen sich keine eindeutigen Beweise finden, um einen Täter dafür verantwortlich zu machen. Auch die zerkratzten Autos und zerstochenen Autoreifen bleiben ohne Folgen. Der Angeklagte wird freigesprochen. &bdquo;Mein Stalker hat gelernt, dass weder die Polizei noch die Justiz etwas machen kann. Das tut weh.“ "Ich lebe noch. Das ist das Wichtigste" Schließlich zeigt der Nachbar Lina S. sogar selbst an – wegen falscher Beschuldigung. Zum Glück wird auch das Verfahren eingestellt. Bis heute fährt Lina S. mit ihrem völlig zerkratzten Wagen – die Lackschäden bleiben so wie die Narben auf der Seele: &bdquo;Ich bin echt froh, wenn ich genug Geld habe, um mir einen neuen Wagen kaufen zu können.“ Wenn die Bielefelderin auf die schlimmste Phase ihres Lebens zurückblickt, dann zuckt sie resigniert mit dem Schultern und sagt: &bdquo;Ich lebe noch, das ist das Wichtigste.“

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