"Wir legen jetzt nicht die Hände in den Schoß": So will Bielefeld die Pflege zuhause sichern

Herr Nürnberger, zum Jahresende hat sich die Lage zugespitzt in der ambulanten Pflege: Erst hat sich die GfS zurückgezogen, dann Alt und Jung Insolvenz angemeldet. Auch beim Bielefelder Modell kriselt es. Wie beurteilen Sie die Lage? Ingo Nürnberger: Wir haben uns jetzt gerade mit Vertretern verschiedener Träger wie AWO, DRK, Caritas, Diakonie, dem Hauspflegeverein, dem privaten Dienst Bonitas und Vertretern aus der Verwaltung an einen Tisch gesetzt, um einen aktuellen Einblick zu bekommen. Die Gespräche waren sehr offen und konstruktiv, aber die Lage ist ernüchternd und macht uns wirklich Sorgen. Neben dem Fachkräftemangel machen die allgemeinen Preissteigerungen und der Kostendruck durch die Tarifsteigerungen den Trägern zu schaffen. Wobei da jeder Euro gerechtfertigt ist. Auch die bürokratischen Dokumentationspflichten gegenüber der Pflegeversicherung kosten einfach zu viel Zeit und damit Geld. Insgesamt muss man einfach sagen, dass die Pflege ohnehin einfach schlecht und knapp finanziert ist. Wo liegen denn genau die Ursachen für das Dilemma – und wie kommen wir da wieder heraus? Das Ganze ist ein längerfristiges, strukturelles Problem, das wir alle kennen und das vor allem auf Bundesebene gelöst werden muss. Der Gesetzgeber hat den Kreis der Leistungsberechtigten ausgeweitet, was richtig und wichtig ist. Altersbedingt werden aber in der kommenden Zeit viele Fachkräfte ausscheiden und der Pflegeberuf erscheint vielen jüngeren Menschen nach wie vor nicht attraktiv genug, so dass nicht ausreichend Nachwuchs nachrückt. Hinzu kommt, dass die Qualifikationsanforderungen immer höhergeschraubt werden. Der größte Teil der Herausforderungen kommt also erst auf uns zu und wird also nicht in Bielefeld zu regeln sein. Aber irgendwie muss doch jetzt auch die Stadt reagieren und etwas tun, damit sich die Situation hier nicht noch weiter verschlimmert und die ambulante Versorgung in Bielefeld auch zukünftig gewährleistet ist? Definitiv. Wir werden auch bestimmt nicht die Hände in den Schoß legen. Das Treffen jetzt war ein erster Auftakt für den weiteren Austausch und eine noch bessere Vernetzung. Sich auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen, ist allen Beteiligten ganz wichtig. Ein möglicher Ansatz ist, dass wir die Strukturen verbessern und man sich in der Stadt effizienter aufteilt. Wie Professor Klaus Wingenfeld, Pflegewissenschaftler an der Bielefelder Universität, angemerkt hat, verbringen die Fachkräfte beispielsweise rund 20 Prozent ihrer Arbeitszeit im Auto. Vor manchen Wohnblöcken stehen Autos von drei unterschiedlichen Diensten. Das lässt sich durch gute Planung sicher deutlich optimieren, allerdings nicht von heute auf morgen. Die gemeinsame Koordinierung von Fortbildungen oder die gemeinsame Erarbeitung von gesetzlich vorgeschriebenen Konzepten ist eine weitere Idee, um Ressourcen zu sparen. Zudem gibt es den Wunsch der Träger und von mir, den Bielefelder Bundestagsabgeordneten die Situation zu schildern, damit sie das mit nach Berlin nehmen. Zudem wird von uns ein Pflegegipfel geplant, bei dem es vor allem auch um den Fachkräftemangel gehen soll. Über 5.200 der rund 340.000 Bielefelder nehmen laut der aktuellen Pflegebedarfsplanung ambulante Pflegeleistungen in Anspruch, Tendenz steigend. Durch die Insolvenzen mehrerer Pflegedienstleister ist die Versorgungslage jedoch aktuell unsicher. Wie sieht es denn aus, wenn jetzt jemand Neues zuhause Unterstützung benötigt? Die Träger bemühen sich auf jeden Fall, ein entsprechendes Angebot zu machen. Aber es wird definitiv enger und hängt auch davon ab, welche Art der Leistung man benötigt. Auch muss für den Anbieter bei den Touren die Mischung stimmen aus leichten und schwieriger zu betreuenden Menschen, damit das System kosten- und belastungsmäßig für den Träger funktioniert. Man muss da aktuell in der Regel etwas herumtelefonieren. Eine gute Anlaufstelle ist bei Problemen aber auch die Pflegeberatung der Stadt. Die Entwicklungen betreffen auch das Bielefelder Modell, das seit 1996 Senioren und Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Wohnen mit Versorgungssicherheit an verschiedenen Orten in der Stadt bietet. Das Besondere ist, dass die Bewohner dafür keine Pauschale bezahlen müssen. Weil das einfach nicht mehr finanzierbar ist, könnten die beteiligten Pflegeträger demnächst aussteigen. Bedeutet das das Ende des Modells, das deutschlandweit große Anerkennung erhalten hat? Das Bielefelder Modell war und ist hochmodern. Besonders wichtig ist der quartiersorientierte Ansatz. Wir wollen das aufrechterhalten, denn es hat auch einen präventiven Ansatz, um stationäre Pflege zu verhindern. Leider bietet die Pflegekasse für Leistungen, die über die reine Pflege hinausgehen, aber kein Finanzierungsmodell. Die Stadt und auch die BGW werden über weitere Kostenbeteiligungen nachdenken müssen. Auch wollen wir prüfen, wie wir das Ehrenamt noch besser einbinden können, um das Modell erhalten und die Quartiersorientierung noch erhöhen zu können. Auch eine Pauschale für die Bewohner muss leider in Betracht gezogen werden. Damit weiterhin alle gesellschaftlichen Schichten teilhaben können, muss es eine sozialverträgliche Lösung geben. Zum Bielefelder Modell werden wir zeitnah den Ratsgremien eine konkrete Beschlussvorlage vorlegen. Könnte es nicht auch ein Gewinn für beide Seiten sein, wenn jetzt beispielsweise ukrainische Flüchtlinge oder andere zugewanderte Menschen in der Pflege unterstützen? Sie würden dabei weiter die Sprache lernen, hätten eine sehr sinnvolle Aufgabe und könnten die Fachkräfte entlasten. Gibt es in der Richtung Ideen? Wir prüfen zurzeit mit einzelnen Trägern und mit unseren Ämtern, wie wir Zugewanderte noch besser integrieren können, sowohl in der Pflege als auch in der Erziehung. Der Bund hat ja die Anwerbung erleichtert, und zudem wollen wir auch das Potenzial unter den Menschen heben, die schon zu uns gekommen sind. Auch hier bräuchten wir noch bessere Lösungen von Bund und Land, aber wir wollen unsere kommunalen Möglichkeiten nutzen. Was macht trotz der nicht einfachen Rahmenbedingungen aktuell Mut, wenn wir über ambulante Pflege sprechen? Bei allen Problemen haben wir hier in Bielefeld gute Voraussetzungen. Wir haben starke, verantwortungsbewusste Träger, gute Fachschulen, eine tolle Hochschul- und Forschungslandschaft. Die Abstimmung untereinander und mit der Kommune ist traditionell und aktuell gut. Und Bielefeld ist eine attraktive Stadt. Damit haben wir bessere Ausgangsvoraussetzungen als viele andere Kommunen, gerade auch im Vergleich zum ländlichen Raum.

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