Mediziner am Limit: Atteste blockieren Bielefelder Arztpraxen

Bielefeld. Möglichst nicht sofort mit dem Kind zum Arzt, sonst sei die Versorgung dauerhaft nicht mehr aufrechtzuerhalten, warnt der Bielefelder Kinder- und Jugendarztsprecher Marcus Heidemann. Viele Besuche seien vermeidbar. "Dummerweise muss man aber ab dem ersten Tag zum Kinderarzt gehen, wegen des Attests für den Arbeitgeber", sagt eine Mutter. Deswegen kämen Eltern mit einem harmlosen Infekt in die ohnehin schon überfüllten Praxen. Und auch Schulen verlangten Nachweise. Muss das so sein? "Ja, aber das machen wir aktuell wirklich nur noch in sehr wenigen, begründeten Einzelfällen", sagt Joachim Held, Schulleiter des Helmholtz-Gymnasiums. Auch den anderen Schulen sei bewusst, dass die Kinder- und Jugendarztpraxen aufgrund der Erkältungswelle und des Personalmangels extrem gefordert seien. Tatsächlich aber habe die Schule vor einiger Zeit eingeführt, dass die Schülerinnen und Schüler beim Fehlen bei einer Klausur ein Attest erbringen müssen. Weil es stark zugenommen habe, dass sich die Jugendlichen auf diesem Weg zusätzliche Lernzeiten verschaffen wollten. Auch einige Eltern hätten ein anderes Bewusstsein, was die Schulpflicht angehe. Mit der Attestpflicht habe man dem einen Riegel vorschieben wollen. Aktuell sei das aufgrund der angespannten Situation in den Praxen allerdings nicht mehr umsetzbar. Ärztinnen und Ärzte könnten nicht ausbaden, was da gesamtgesellschaftlich schieflaufe. Überwachung der Schulpflicht und Recht von Kindern auf Bildung "Andererseits gibt es wirklich einige Kinder, um die wir uns Sorgen machen, die trotz aller Beratungsangebote hier bei uns kaum noch aufschlagen", ergänzt Held. Bei diesen Sonderfällen müsse genau hingeschaut werden, auch mit Blick auf mögliche psychische Ursachen. Laut Schulgesetzt müssen Eltern das krankheitsbedingte Fehlen der Kinder entschuldigen. Aber es ist auch definiert, dass Schulen bei begründeten Zweifeln, ob Unterricht wirklich aus gesundheitlichen Gründen versäumt wird, von den Eltern ein ärztliches Attest verlangen und in besonderen Fällen ein amtsärztliches Gutachten einholen lassen können. "Die Angabe einer pauschalen Attestpflicht oder der Verweis allein auf umfangreiche Fehlzeiten können nicht berücksichtigt werden", sagt Heidemann. Allerdings seien genau diese umfangreichen Fehlzeiten in vielen Fällen das Problem, so Martina Reiske, Leiterin der Sudbrackschule und Mitglied im Vorstand der Schulleitungsvereinigung NRW. "Wir haben zunehmend mit hohen Zahlen von Fehlstunden zu tun, auch schon im Grundschulbereich. Da müssen wir hinterher sein, denn am Ende geht es um die Überwachung der Schulpflicht – und somit das Recht von Kindern auf Bildung. Mit "sehr flexiblen Möglichkeiten" begegne das gerade mit dem Prädikat "besonders familienfreundlich" ausgezeichnete Bielefelder Unternehmen EK Servicegroup dem Problem. Neben der Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, sei es auch möglich, an bestimmten Tagen weniger zu arbeiten und Überstunden abzubauen, so Human-Ressources-Managerin Katharina Lihs. "Oder man startet abends nach 18 Uhr nochmal, wenn das dann gut passt", ergänzt sie. Sei das Kind krank, sei klar, dass die Eltern zu Hause bleiben, so Lasse Rheingans vom gleichnamigen Unternehmen, das ebenfalls mehrfach als "besonders familienfreundlich" ausgezeichnet worden ist und mit der Einführung des 5-Stunden-Tages bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Es sei eine Illusion zu glauben, dass man mit einem kranken Kind von zu Hause auch noch arbeiten könne, so Rheingans, selbst zweifacher Vater. Das müsse man aber auch nicht. Er sei sich ganz sicher, dass wichtige Arbeit nicht liegen bleibe. Vertrauen sei auch da ein ganz wichtiger Aspekt, der zukünftig eine noch größere Rolle spiele, auch beim Thema Fachkräftemangel. Bescheinigung ab dem ersten Krankheitstag von den Kassen vorgegeben Für das ohnehin knapp besetzte Pflegepersonal in den Bielefelder Kliniken ist Homeoffice oft keine Option. Eltern könnten aber jederzeit unter Einsatz von Mehrarbeitsstunden zu Hause bleiben, bei einer Regelung von Mobiler Arbeit selbstverständlich in Abstimmung mit dem Dienstvorgesetzten, heißt es auf Nachfrage dazu aus der Personalabteilung des Evangelischen Krankenhauses Bethel (EvKB). Ansonsten müssten sie sich ab dem ersten Tag "kindkrank" melden, so die Vorgabe der Krankenkasse. Die übernehme dann die Gehaltszahlung. Voraussetzung sei eine Bescheinigung des Arztes, die in der Regel nicht rückwirkend ausgestellt werde. Um das Attest zu bekommen, müsse man nicht in die Praxis kommen, so Heidemann. Das sei seit längerem auch telefonisch möglich. Die Frage sei allerdings, wie sinnvoll die Diagnose dann wirklich sei. Zudem komme man oft in vielen Praxen aufgrund der hohen Nachfrage kaum durch. Hilfreich sei da jetzt die noch recht neue, kostenlose App "Mein Kinder- und Jugendarzt". Darüber könne man nicht nur Atteste beantragen, sondern bekomme auch Erinnerungen an Termine für Vorsorgeuntersuchungen und andere aktuelle Praxisinfos. Allerdings nutzten noch nicht alle Kollegen diese Möglichkeit.

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