Kinderarztsprecher schlägt Alarm: "Bielefeld in vielen Bereichen am Limit"

Dass die Stadt bei ihren Energiesparoptionen die Kürzung von Kita-Zeiten überhaupt anführt, finden nicht nur Eltern unglaublich. Warum macht auch Sie das wütend? Marcus Heidemann: Ich frage mich wirklich, ob das ernst gemeint ist. Kann es sein, dass die Verantwortlichen der Stadt hier entweder gar nicht wissen, was sie da reden und was es für die Kinder - und auch für die Eltern - bedeutet, wenn schon wieder Förderung und soziales Umfeld der Kinder gestört und eingeschränkt werden? Oder möchte die Stadt davon ablenken, dass die Kinder aufgrund der Personalsituation in den Kitas sowieso nicht mehr umfänglich betreut werden können und will sie somit wie in der Gastronomie durch verkürzte Öffnungszeiten Personal sparen. Natürlich auch auf Kosten der Kinder. Bielefeld ist da gerade an vielen Stellen wirklich am Limit. Dass allein 900 Kita-Plätze fehlen, ist bekannt. Was bereitet Kindern und ihren Eltern sonst noch Bauchschmerzen? Förderplätze fehlen, bei den Kleinsten, aber auch für Schulkinder. Kinder warten oft viele Monate, neue Kapazitäten sind nicht in Sicht, bestehende Angebote werden zum Teil blockiert. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Kinder, die diese frühzeitige Förderung dringend benötigen - auch eine Folge der Coronaeinschränkungen. Und zwar jetzt, und nicht erst in einigen Monaten oder Jahren. Kitas werden zwar per Beschluss neu gebaut, aber leider kann man per Beschluss noch kein Personal erschaffen. Und jetzt verlieren womöglich durch die drohende Schließung des Bielefelder Berufskollegs der AWO auch noch etliche angehende Erzieherinnen und Erzieher ihre Ausbildungsplätze. Während man für Banken, Fluggesellschaften oder Energieunternehmen schnell beliebige Milliardensummer besorgt, gibt es im sozialen Bereich allenfalls solidarischen Applaus. Wenn kein Geld und vor allem keine Planungssicherheit für ein Berufskolleg, aber auch eine Arztpraxis oder eine andere soziale Einrichtung, existiert, ist es logisch, diese zu schließen. Wenn sie durch Gedankenlosigkeit, Unkenntnis oder Trägheit der Bundes- aber auch der lokalen Politik kaputtgemacht wurden, ist es viel teurer, die neu entstehenden Probleme zu lösen oder gar neuen Strukturen aufzubauen. Die Konsequenzen tragen Kinder und Familien. Was könnte die Stadt aus Ihrer Sicht tun? Die Stadt muss sich dringend Gedanken machen, wie sie soziale Infrastruktur erhalten, unterstützen oder neu schaffen will. Wenn wir jetzt Kinder und Jugendliche vernachlässigen, bedeutet eine Jahnplatzrenovierung nur ein "Schöner-Wohnen"-Programm für die Obdachlosen von morgen. Wenn wir den Menschen keine medizinische oder pädagogische Betreuung ihrer Kinder anbieten, dürfen sich Bielefelder Unternehmen nicht über Personalmangel beschweren, denn Eltern werden Bielefeld irgendwann meiden. Eine gute Betreuung von Kindern und Familien ist auch ein Standortfaktor, der der Stadt und den Unternehmen wichtig sein sollte. Wie sieht es bei den Jugendlichen aus? Sie brauchen Bewegung und Freizeitangebote. Wenn wir jetzt darüber nachdenken, Sporthallen zu schließen, um Energie zu sparen oder in Schwimmbädern das Wasser so kalt machen, dass die ohnehin schon eingeschränkten Schwimmkapazitäten noch weiter reduziert werden, wird sich das irgendwo rächen. Das geht alles auf Kosten der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Das wird in der ganzen Diskussion kaum bedacht. Einige Schüler finden nach der langen Zeit des Homeschoolings immer noch nicht den Weg zurück in die Klassengemeinschaft. Schulabstinenz hat zugenommen - über alle Schulformen hinweg. Das beschäftigt auch die Praxen. Neben den Fällen echter psychischer Probleme, die viel häufiger geworden sind und viel Zeit Kosten, gibt es weitere Belastungen. Es gibt Schulen, die verlangen jetzt von ihren Schülern ab dem ersten Fehltag ein Attest. Diese Schüler sind aus meiner Sicht oft nicht ernsthaft krank. Sie benötigen definitiv keinen Arzt, kommen aber in die Praxen und blockieren Zeit, die wir besser nutzen könnten. Da wird aus meiner Sicht viel abgewälzt. Das System schiebt die Verantwortung von einem zum anderen. Das ist auch in anderen Bereichen so. Weil keine Hebamme zu bekommen ist, kommen verunsicherte Eltern auch mit Fragen rund um die Geburt zu uns. Wir erledigen Arbeit, die anderen tun könnten. Weil wir das alles nicht schaffen können, bleiben am Ende manche Kinder auch ärztlich unversorgt. Die extremen Preissteigerungen bereiten vielen Familien große Sorgen. Das geht doch an den Kindern auch nicht spurlos vorbei, oder? Definitiv nicht. Gerade für Kinder, die besondere Förderung benötigen, ist das erneut eine schwere Belastung. Familien die nach Corona keine Ressourcen mehr haben, die maximal belastet und oft hilflos sind, kommen jetzt in eine neue extreme Belastung. Wer täglich um die Existenz kämpfen muss oder zumindest mit Sorgen darüber nachdenkt, hat noch weniger Kapazitäten für die liebevolle und fürsorgliche Betreuung seiner Kinder. Ihnen merkt man die Belastungen der Eltern in Kita oder Schule an. Wir erleben sie in unseren Praxen mit Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsstörungen. Diese Kinder, durch zu wenig Personal betreut, bringen dann in der Kita aber eventuell die ganze Gruppe durcheinander - und alle anderen Kinder leiden mit darunter. Was könnte denn jetzt helfen? Aus kinder- und jugendärztlicher Sicht brauchen die Kinder Kitas und die dort Tätigen dringend jede mögliche Unterstützung und Hilfe. Jede Form der Einsparung auf Kosten der Kinder ist ein direkter Angriff auf deren Gesundheit und Entwicklung. Das gilt auch für dringend benötigte Angebote wie Sport, inklusive Schwimmen, bei denen wir uns keine weiteren Ausfälle leisten können. Die Energiedebatte ist wichtig, es gibt aber ganz sicher anderswo Sparpotenzial. Jeder sollte mithelfen, die Personen zu entlasten, die Kinder und Jugendliche betreuen, unterstützen und behandeln - und diese nicht zusätzlich mit unsinnigen Aufgaben versorgen. Es gibt zu viele komplexe Systeme, Gremien, Arbeitskreise. Aber bis sich etwas tut, dauert es. Wir brauchen aber schnelle Hilfen und Lösungen. Mitdenken und einfach machen ist die Devise. Das ist jetzt oft nicht der Fall? Nein, wir erleben immer wieder das Gegenteil, ich könnte die ganze Zeitung füllen mit absurden Geschichten und bürokratischem Unfug: Die Ukraineflüchtlinge sind jetzt oft nicht mehr über die Stadt krankenversichert, sondern gesetzlich. Aber niemand hat ihnen gesagt, dass sie die Versicherung für ihre Kinder im Rahmen der Familienversicherung mit beantragen müssen. Wenn sie für die Schule eine Masernimpfung nachweisen müssen und zu uns kommen, sind die Kinder nicht versichert. Wir fangen also an, zu telefonieren und zu erklären, wo die Mitarbeiter der Kasse direkt hätten fragen können. In einem anderen Beispiel benötigt ein Kind bei einer allergischen Reaktion im Notfall die schnelle Gabe eines Kortisonzäpfchens. Der Träger der Kita erlaubt das aber nur, wenn der Arzt den Erzieherinnen erklärt hat, wie es angewendet wird und dies schriftlich bestätigt. Also kommen drei Erzieherinnen der Gruppe in die Praxis, um sich die Gabe eines Zäpfchens erklären zu lassen, obwohl sie das bei eigenen Kindern dutzendfach gemacht haben. In der Zeit hätten alle Beteiligten sicher etwas Sinnvolleres tun können. Ich bin mir aber sicher, dass derjenige, der die Vorschrift erfunden hat, in seinem Job pünktlich Feierabend hat.

Meistgelesen