Abhängen, pöbeln, prügeln: Immer mehr Schulschwänzer werden zum Problem

Bielefeld. Respektlose Jugend-Gruppen verängstigen rund um das Einkaufszentrum Loom Kunden und Mitarbeiterinnen. Homophobe Jungs zelebrierten während des Christopher Street Days plötzlich offen ihren Hass und die Schulen kämpfen teilweise vergeblich gegen verhaltensauffällige Störenfriede, die mit Reizgas, Amok-Androhungen und Cybermobbing den Schulfrieden stören. Was ist da los? Wir haben den Schulpsychologen Carsten Hoffmann und den Jugendtherapeuten Klaus Riedel gefragt. Einerseits sorgen Schulschwänzer für große Probleme, andererseits lenken Experten den Blick auch auf die Stillen. Welche Kinder fallen auf? Carsten Hoffmann ist seit mehr als zehn Jahren Schulpsychologe bei der Regionalen Schulberatungsstelle der Stadt. Er hat in vielen Fällen erkannt, dass die Probleme oft schon von Zuhause mitgebracht werden. &bdquo;Manche Kinder haben bereits vier Jahre problematische Grundschulkarriere hinter sich und kommen dann auf der weiterführenden Schule nicht mehr mit. Das drücke enorm das Selbstwertgefühl.“ Manche versuchten, das zu kompensieren. &bdquo;Die einen spielen sich als Klassenclown auf, andere werden mit provokativem Verhalten auffällig. Sie wollen dafür Anerkennung.“ Problematisch werde es, wenn sich die Störungen deshalb häuften. Ping-Pong-Eskalation Hoffmann nennt ein Beispiel: In einer Klasse gebe es zufälligerweise eine Häufung sehr problematischer Kinder. &bdquo;Wenn sich davon allein fünf sehr stark in den Vordergrund spielen, schaukelt sich die Lage schnell auf.“ Der Psychologe nennt das Ping-Pong-Eskalation. Die Schüler setzten dann immer noch einen oben drauf. Wie bei einem Wettbewerb. TikTok-Anerkennung Ein Beschleuniger sind dabei die sozialen Netzwerke. Früher habe es natürlich auch schon Mutproben gegeben und Kinder, die Mist gebaut hätten. &bdquo;Aber damals haben sich zwei Kumpels verabredet und danach war es das. Heute aber gehen die Streiche und Mutproben sofort online“, sagt der Experte. Vor wenigen Jahren hätte sich kaum einer getraut, in der Schule Reizgas zu versprühen oder eine Amok-Drohung auf dem Schulklo zu hinterlassen. Aber TikTok, Instagram und Co. machten das alles zum Trend. &bdquo;Es gibt Schüler, die können sich dem Reiz großer Zuschauerzahlen nicht entziehen. Die Likes sind vielleicht das einzige Lob, das sie erhalten.“ Das Problem: &bdquo;Ihnen fehlt selbst oft die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.“ Verletzende oder bloßstellende Videos seien kaum zu stoppen. Die Opfer leiden deshalb sehr lange. Positive Aufgaben finden &bdquo;Es wäre wünschenswert, dass das grenzüberschreitende Verhalten in der Schule schnell aufgearbeitet wird“, sagt Hoffmann. Und dann sei es enorm wichtig, etwas für diese Kinder zu finden, das ihren Selbstwert erhöht. &bdquo;Das kann eine ganz banale, aber positive Aufgabe sein, für die der Schüler endlich auch Lob erhält.“ Pandemie als Verstärker Hoffmann sieht das auffällige Verhalten der Kinder und Jugendlichen nicht als besondere Folge der Corona-Pandemie: &bdquo;Dass viele Schüler besonders um Aufmerksamkeit kämpfen, habe ich schon vorher beobachtet.“ Aber sicherlich habe das Homeschooling vielen bisher unbekannte Probleme aufgezeigt. &bdquo;Wir haben Eltern kennengelernt, die erst durch den Schulalltag Zuhause den Hilfebedarf bei ihren Kindern erkannt haben.“ In einem Punkt ist er sich in Sachen Corona und Homeschooling sicher: &bdquo;Denen, denen es vorher gut ging, denen geht es jetzt auch wieder gut. Aber denjenigen, denen es schlecht ging, denen geht es nach Corona oft schlechter.“ Die Stillen nicht vergessen Für Klaus Riedel, Sprecher der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Bielefeld, gibt es deutlich weniger Handlungsbedarf bei den lauten Störern. Vielmehr würden im Trubel oft die stillen Schüler vergessen, die sich mehr und mehr einigeln: &bdquo;Wir gehen davon aus, dass jeder 10. Schüler aus Angst nachts nicht schlafen kann.“ Aus einer Studie vom Februar 2021 (Copsy-Studie) geht hervor, dass depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden (Schlafprobleme, Trennungsängste, Bauchschmerzen, Essstörungen) unter Schülern nochmals zugenommen hätten. Demnach zeigten seinerzeit 31 Prozent der befragten Minderjährigen psychische Auffälligkeiten. In der Praxis zeige sich, so Riedel, dass zwei Drittel davon sogar therapiebedürftig seien. Problem Schulschwänzer Ein anderes großes Problem entstünde eher außerhalb der Schule, sagt Schulpsychologe Hoffmann. Es geht um das &bdquo;Abhängen“ an bestimmten Brennpunkten. Hoffmann berichtet von Schülern, die gezielt zur Brackweder Kirche ziehen oder zum Kesselbrink. Er weiß aber auch von 16-Jährigen, die sogar am Alkoholiker- und Drogentreffpunkt am Hauptbahnhof, der Tüte, ihr Ego aufpolieren wollen: &bdquo;Die Leute, die dort sitzen, sind etwas älter, scheinbar cool und immer da. Es gibt keine verbindlichen Zeiten, an die ich mich halten muss, und ich muss mich nicht anstrengen wie etwa im Verein.“ Wer an solchen Orten neue Freunde und den Alkohol für sich entdecke, der kehre der Schule nicht selten ganz den Rücken. Für die Pädagogen in Bielefeld sind die Schulschwänzer längst ein großes Problem. Benötigte Bindung Für Riedel ist deshalb ganz dringend, dass sich nach der gelernten sozialen Distanz der Corona-Pandemie ganz schnell wieder emotionale Bindungen bilden. &bdquo;An den Schulen ist jetzt das Wichtigste, dass so viel Bindung und Empathiefähigkeit wie möglich aufgebaut wird“, fordert er. Dabei sind aber nicht nur die Schulen gefragt, sondern auch Anbieter, die nach Schulschluss agieren. Rückeroberung des Tages Der Therapeut nennt das die &bdquo;sekundäre Sozialisation“. Die müsse wieder voll zurückkehren, fordert er. Denn diejenigen, die zu Hause kaum positive Bindung und Empathie erleben, benötigten gerade jetzt sehr dringend Kontakt zu Vertrauenspersonen – quasi ein zweites Auffangsystem. Das können Leiter von Schul-AGs sein, aber auch Trainer im Verein oder Jugendgruppenleiter. All diese Angebote seien zwei Jahre lang fast komplett auf Null runtergefahren worden, Ängste der Kinder mit psychischen Problemen hätten sich derweil aufgestaut. Jetzt falle es sehr schwer, dieses System wieder auf Touren zu bringen. Zu wenig Personal Carsten Hoffmann: &bdquo;Wir müssen uns fragen: Was ist uns Schule und Bildung wert?“ Es gebe Schulen und Schulformen, an denen es gut laufe und es gebe welche, an denen laufe es nicht gut. Er betont: &bdquo;Es steht und fällt zwar alles mit den Lehrern und der Konstellation innerhalb der Klassen.“ Bei Schulklassen mit 25 Kindern, in denen multiple Probleme auftauchen, müsse sich die Gesellschaft aber grundsätzlich fragen, ob das auf Dauer gut gehen kann. &bdquo;Wir brauchen schnell mehr Sonderpädagogen und Sozialarbeiter“, fordert er. Auch schon vor der Schule sei das wichtig. Immer mehr Erstklässler kämen mit Rückständen aus den Familien in den Schulen an. &bdquo;Immer mehr Kinder können nicht richtig klettern, sie können nicht rückwärtslaufen oder einen Schuh zubinden. Deutschland muss jetzt langsam in den Quark kommen und Bildung endlich richtig fördern.“

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