Bielefelder Klinik droht Kollaps: Ärztlicher Direktor schlägt Alarm

Rekord: Fast eine Million Corona-Neuinfektionen binnen drei Tagen. Folgen: Kaum noch Unterricht, ganze Abteilungen in Firmen sind massiv ausgedünnt, 75 Prozent der Kliniken in Not – und wir füllen parallel die Fußballstadien, Konzerthäuser, Theater, Diskos. Und wir fordern Maskenfreiheiten. Bin nur ich irritiert? Thomas Vordemvenne: Nein, alle Berufsgruppen, alle Strukturen, die Leistungen erbringen müssen, befinden sich in Ausnahmesituationen, die sie während der Pandemie so noch nicht erlebt haben. Bei uns, im medizinischen Bereich, wo es im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig ist, da herrscht, gelinde gesagt, Irritation vor. Wie steht es in Zahlen um Ihre Mitarbeiterschaft im Evangelischen Klinikum Bethel? Ich greife die Pflege heraus: Von fast 2.000 Mitarbeitenden fehlen knapp 500. 500 von 2.000 Pflegern fehlen Ein Viertel?! Ja, 179 sind infiziert und damit in Quarantäne, dazu kommen geschätzt 60 oder mehr, die infizierte Kinder haben und zu Hause bleiben sowie weitere, die eben andere Krankheiten haben. Das ist dramatisch, denn es geht um systemrelevante Mitarbeiter, um Fachkräfte, um jene, die es perfiderweise seit zwei Jahren trifft. Die Pandemie hinterlässt in der Pflege, aber auch der Ärzteschaft, immer tiefere Spuren. Die Pflege war schon vorher nicht gut aufgestellt, nun wird sie immer stärker dezimiert, quasi doppelt: der Mangel, Abgänge, Infektionen, Quarantänen. Es gab ja auch schon vor der fünften Welle erhebliche Probleme, jetzt aber hat es sich noch einmal verschärft. Sie verschieben wieder OPs – ist das der Preis der neuen alten Freiheit? Das ist er, der Preis, ja. Es ist leider so: Viele Patienten kommen tatsächlich nicht wegen Covid, sondern mit Covid. Nur ändert das nichts daran, dass wir, wie in den Wellen zuvor, die Hygienemaßnahmen aufrechterhalten müssen. Und das bindet viele Kräfte. Das Problem sind die Normalstationen. Patienten haben ein anderes Problem und zusätzlich Covid – dadurch wird es für uns komplexer. Ja, es macht uns ein stückweit handlungsunfähig. Permanenter Mangel Welchen Preis zahlen Ihre Mitarbeiter? Sie erleben permanenten Mangel, ständige Vertretungssituationen. Sie leisten immer mehr Mehrarbeit. Es geht für sie immer weiter an die Grenze. Dabei ist die Bereitschaft enorm, das Verständnis für die Lage ist da – im Haus. Blicken sie aber nach draußen, wo so getan wird, als gebe es die Pandemie nicht mehr, dann entsteht eine große Fallhöhe. Das löst Ärger aus, Unverständnis. Die Mitarbeiterzahl schmilzt uns weg, da fühlen sich viele alleine gelassen von einer Gesellschaft, die über Freiheiten redet. Was sind die Folgen? Wir reduzieren Betten auf Stationen, ringen um die Besetzung der Notaufnahme, verschieben Operationen. Aber: Alle zeitkritischen Operationen werden im Moment noch durchgeführt. Im Moment? Es besteht die Gefahr, dass sich das ändert. Und wenn ich daran denke, dass anfangs vulnerable Gruppen geschützt werden sollten, dann wird dieser Kurs von der Politik jetzt gerade komplett verlassen. Sie sagen das mit Blick auf die Bundesregierung, die einen klaren Öffnungskurs fährt. Wie würden Sie handeln? Mit Ratio. Der Bundesgesundheitsminister handelt nicht mit Ratio, also mit Vernunft? Das Vorgehen scheint sich geändert zu haben. Noch sechs Wochen warten Geht das konkreter? Masken, Abstand halten, Kontaktbeschränkungen, AHA-Regeln – all das hat sich bewährt und ist eingeübt. Nun, mitten in der fünften Welle, wird genau darüber diskutiert? Wir sollten uns noch vier bis sechs Wochen geben, bis die fünfte Welle abgeflacht ist. Was treibt die Politik wohl an? Gegenfrage: Könnte es sein, dass eine Durchinfektionsstrategie gerade als opportunes Mittel betrachtet wird? Soll die Pandemie so auslaufen? Der politische Wille dafür scheint da zu sein. Ich bin darüber irritiert. Die Leute werden ja trotzdem krank, oft nicht lebensbedrohlich, aber grippeähnlich. Und eine Grippe ist kein Vergnügen. Viele sagen, dass Corona nur noch eine Art Mini-Grippe ist. Also: Nieder mit den Quarantäneregeln und endlich normales Leben für alle. Nur wer krank ist, bleibt im Bett, so wie früher. Das würde den Zusammenbruch mit sich bringen. Das Virus hat sich nicht so verändert, dass es fast keine Krankheit mehr ist. Und die Langzeitfolgen können wir auch nicht in vollem Umfang abschätzen. Omikron bringt viele verschiedene Verläufe mit sich, aber ganz sicher ist es kein leichter Schnupfen. Unsere Mitarbeiter sind oft krank, grippeartig, nicht wie bei einer Erkältung. Und es gibt merkwürdige neurologische Symptome – Taubheitsgefühle zum Beispiel. Das mag banal sein für die Allgemeinheit, aber nicht für den Einzelnen, der es hat. Impfpflicht macht Mut Was macht Mut? Mut machen uns die Impfpflicht und die Impfungen – das ist ein Segen, auch wenn Menschen trotzdem erkranken und andere ebenso effektiv infizieren können. Aber zumindest sind die Intensivstationen jetzt entlastet. Covid ist in den Kliniken längst eher ein Zufallsbefund als der Grund für den Klinikaufenthalt. Es wird viel mehr mit Covid gestorben als an Covid. Jeden Tag haben wir bundesweit 250 bis 300 Todesfälle – das ist nicht wenig. Mit oder an Covid gestorben? Ja, das mag eine Frage sein. Am Ende aber ist doch wichtig, ob die Menschen ohne Covid überlebt hätten. Und im Klinikalltag bedeutet jeder Covid-Fall einen enormen Aufwand, um die anderen Patienten zu schützen. Zudem erkranken eigene Mitarbeiter. Das wirkt sich doppelt auf unsere Leistungsfähigkeit aus. Aus Ihren eigenen Reihen kommt Kritik an zu langen Quarantänezeiten – das blockiere. Wir arbeiten eng mit dem Gesundheitsamt zusammen, um bei Personalengpässen Ausnahmen zu ermöglichen. Allerdings setzt das die Symptomfreiheit und Arbeitsfähigkeit voraus, was bei nur wenigen Mitarbeitenden der Fall ist. Sollte es zu einer absoluten Handlungsfähigkeit kommen, wird eine Verkürzung sicher die einzige Möglichkeit sein, die Versorgung aufrecht zu erhalten. Ihr Fazit? Ich habe Verständnis für den Wunsch nach Freiheiten, aber bitte, lasst uns noch vier bis sechs Wochen zusammenreißen. Das muss die Politik verstehen. Die Deutschen folgen ja sehr stark den politischen Vorgaben, das hat bisher gut geklappt. Die Politik sollte bei ihrer Linie bleiben – und auf die Fakten schauen. Da wären wir wieder bei der Ratio, der Vernunft. Genau, und da droht jetzt ein Bruch. Lähmung droht Mit welchen Folgen? Enorm vielen Ausfällen von Mitarbeitenden – und damit einer schleichenden, kontinuierlichen Lähmung des gesamten Staates, in allen Bereichen.

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