"Wir hätten früher mit erneutem Personalaufbau beginnen müssen"

1.200 Corona-Fälle in den vergangenen sieben Tagen, die Inzidenz bei 359,8 – wie tagesaktuell sind heute die Bielefelder Zahlen? Wir sind weitestgehend aktuell, haben nur noch in geringem Umfang Nachmeldungen. Was auf jeden Fall immer passieren wird ist, dass manche Fälle erst am nächsten Tag eingegeben werden können. Wenn an einem Tag sehr viele Fälle gemeldet werden und die auch noch spät bei uns ankommen. Dazu kommt, dass die Labore am Anschlag sind und wir häufig Ergebnisse bekommen, deren Tests einige Tage zurückliegen.Es wird also schon deshalb weiterhin Nachmeldungen geben. Und ich kann nicht versprechen, dass wir das Melden bei einer Inzidenz von 500 oder 600 noch perfekt hinkriegen. Das ist ein unglaublich aufwendiger Vorgang, und die IT gibt uns leider kaum Systematisierungsmöglichkeiten.Das System Sormaz sollte doch da Abhilfe schaffen? Wir kriegen Meldungen über Mutationen, positive Schnelltest bei den Testzentren, über positive PCR-Tests. Das geht alles in ein Postfach. Sie können es nicht am Betreff erkennen, nicht systematisieren oder durch Computer auslesen lassen, das haben mir Experten bestätigt. Man muss jeden Fall anfassen und prüfen. Der Sormas-Dienstleister will demnächst bundesweit ein Update liefern, was hoffentlich Erleichterungen schafft, aber wir können an Sormas eigenständig nichts verändern. Wenn ich darauf hinweise, dass uns die IT beim Melden wenig unterstützt, soll das kein Wegschieben von Verantwortung sein. Man muss personell dagegen steuern. Wir haben innerhalb weniger Tage das Meldeteam auf 18 Leute verdoppelt. Wir werden es weiter ausbauen, weil ich weiß, dass der Anspruch von Politik auf Landes- und Bundesebene und der Öffentlichkeit ist, gute Zahlen zu haben. Und da fühle ich mich durchaus in der Pflicht. Der personelle Aufwand, den wir nur für die Statistik betreiben, ist dabei aber echt enorm. In der Nachverfolgung ist wieviel Personal aktiv? Auch hier bauen wir auf. Aktuell haben wir 56 Mitarbeitende in der Kontaktnachverfolgung, mit Schwerpunkt auf Kitas, Schulen Kliniken und Altenheimen. Aber es ist vielen nicht klar, dass die Corona-Abteilung noch andere Aufgaben hat. Mit den 73 Voll- und Teilzeitstellen, die wir momentan besetzt haben, organisieren wir das Melden, die Nachverfolgen, das Testgeschehen, organisieren die Impfkampagne, kontrollieren Hygienekonzepte, bereiten die Rechtsgrundlagen für Mitarbeiter und Bürger auf. Wir sind jetzt mit Hochdruck dabei, die 90 Stellen, die uns der Rat zur Verfügung gestellt hat, voll auszunutzen und stellen ein. Warum haben Sie das nicht schon früher getan? Wir wollten den Apparat nicht zu sehr aufblähen und steuerbar halten. In der Pandemie gab es zudem bekanntlich ein unglaubliches Auf und Ab. Im Sommer hatten wir zeitweise überhaupt keine Corona-Fälle mehr. Aber natürlich kann man mir die kritische Frage stellen &bdquo;Warum hast Du nicht im Sommer die Stellen, die Du vom Rat bekommen hast, so weit ausgenutzt, dass Du jetzt in der 4. und 5. Welle besser durchkommst?“ Ich stelle mir die kritischen Fragen selbst und bin mir meiner Verantwortung bewusst. Ich entscheide diese Dinge nicht allein, aber am Ende muss ich dafür geradestehen. Stand heute sage ich auch, wir hätten vier Wochen früher mit dem erneuten Aufbau des Personals beginnen sollen. Aber seit Anfang Dezember habe ich dafür gesorgt, dass wir massiv ausbauen, mit allen Folgen, die das hat: dass wir in einer schwierigen Phase neue Leute einarbeiten müssen, dass wir auch neue Räume brauchen und so weiter.Wir sind bundesweit bei 92.200 Neuinfektionen. Macht Ihnen so ein Höchstwert in der Pandemie auch mal Angst? Mir ist schon mulmig dabei. Auch wenn ich eigentlich sicherlich zu denen gehöre, die mit einer relativ optimistischen Haltung an die Pandemie rangehen, wenn es um die Beherrschbarkeit und die Auswirkung angeht. Die Wissenschaft ist da ja auch nicht immer völlig einer Meinung, auch aktuell nicht zu den Auswirkungen von Omikron. Ich gehöre generell zu den optimistischen Menschen. Das hilft mir in meiner Position, auch als Sozialdezernent, in vielen Situationen. Als Krisenstabsleiter habe ich mir aber ein gehöriges Maß an Pessimismus antrainieren müssen.Was halten Sie von einer Impfpflicht? Noch vor einigen Monaten habe ich dagegen argumentiert, und darauf gesetzt, dass man mit guten Argumenten und Angeboten viel erreichen kann. Jetzt halte ich die Pflicht für rechtlich möglich und wenn wir wollen, dass das alles irgendwann zu Ende geht, auch für richtig.Ich sehe nur massive praktische Probleme in der Umsetzung. Wenn man Gesetze und Vorgaben nicht verlässlich umsetzen kann, muss man sich als Gesetzgeber auch überlegen, ob ich diese Pflicht auferlege. Anderenfalls führt das zu riesigen Ungerechtigkeiten und blamiert den Staat.Falls es zu einer Impfpflicht kommt, werden sich vielleicht auch noch manche erreichen lassen. Aber es wird einen harten Kern geben, der auf den Druck nicht reagieren wird. Zumindest nicht mit einer Impfung, er wird anders reagieren, zum Beispiel in dem er spazieren geht. Der harte Kern der Spaziergänger behauptet von sich selbst &bdquo;Wir sind die rote Linie“. Wie soll man mit dieser Gruppe, in der die Einzelnen durchaus unterschiedlich motiviert sind, umgehen? Es gibt bei vielen Corona-Themen ein Für und Wider, beispielsweise bei der Impfpflicht. Es ist völlig legitim zu sagen &bdquo;Ich bin dagegen. Ich möchte das nicht“. Man darf auch als Ungeimpfter sagen, dass man nicht so stark benachteiligt werden, weil man sich fünf Mal die Woche testet und vorsichtig ist. Ich muss diese Positionen nicht teilen, aber sind das sind legitime Positionen, die dürfen auf der Straße vertreten werden.Da gehen wohl die meisten d’accord. . . Aber es ist noch mal wichtig, es zu erwähnen. Die Leute, die da unterwegs sind, müssen sich trotzdem die Frage stellen lassen, mit wem sie sich zusammentun. Denn natürlich wird das Ganze – der Widerstand in den sozialen Medien und das, was auf der Straße passiert – , von bestimmten Leuten gesteuert, instrumentalisiert und angefeuert. Von Rechten, von Verschwörungstheoretikern, von Reichsbürgern, von AfD-Leuten. Weil das Thema hoch emotionalisierbar und nutzbar ist. Wahrscheinlich noch besser als die Flüchtlingszuwanderung 2015/16. Jeder, der da mitläuft, hat die Verantwortung sich zu fragen: Mit wem tue ich mich da zusammen. Was kann man nun tun? Was ich wichtig finde ist, dass wir als Verwaltung und Politik weiter gesprächsfähig sind. Dass wir Widerspruch zulassen, über diese Dinge streiten. Wir sollten Willens sein, weiter zuhören. Das Problem ist, dass es mittlerweile auf beiden Seiten einen Unwillen gibt. Die Kritiker sagen: Die hören gar nicht auf uns und sind viel zu autoritär unterwegs. Und die große Mehrheit, die die Maßnahmen unterstützt oder auch verantwortet, sagt: Die sind für unsere rationellen Argumente überhaupt nicht zugänglich. Nachdem man sich auf diese Weise monatelange die Argumente um die Ohren gehauen hat, ist auf beiden Seiten die Geduld am Ende und die Zündschnur kurz. Als Sozialdezernent sage ich, dies ist nicht nur ein Problem, sondern eine Gefahr für unser Zusammenleben.Die aktuelle Diskussion ist, ob man die Spaziergänger mit ihrem Hase- und Igel-Spiel weiter laufen lässt oder ob härter eingegriffen werden muss. Nach wie vor ist der Großteil der Menschen friedlich unterwegs. Kessele ich die ein, um Personaldaten festzustellen, weil sie gegen die Coronaschutzverordnung verstoßen? Bei ein paar Hundert Leute kann das über Stunden gehen, und dann ist das Freiheitsentzug, den die Polizei, den der Staat rechtfertigen muss. Die Polizei darf bei Verstößen im Grundsatz einkesseln und Personaldaten erfassen, aber sie muss die Maßnahmen immer nach den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Deeskalation beurteilen.Trotzdem würde ich sagen, dass Politik und Polizei sich nun die Frage stellen lassen müssen, was sie sich noch gefallen lassen wollen. Oder ob man durch gezielte Aktionen vor allem die Rädelsführer, die dieses Spiel betreiben, rauspickt, wenn sie gegen Regeln verstoßen. Die, die bei den Spaziergängen ohne Maske und ohne 3G-Nachweise vorne weglaufen, sind ja nicht zufällig an der Spitze. Bund, Länder und Kommunen sollten auch überlegen, ob die aktuellen Regeln nicht eine Einladung sind, das Versammlungsrecht mit den Lichterspaziergängen zu umgehen.Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, er sieht dennoch keine Spaltung der Gesellschaft. Natürlich gibt es eine Spaltung in der Bevölkerung. Aber die Teile, in die wir gespalten sind, sind unterschiedlich groß. Die 90 Prozent, die Impfungen und Regeln akzeptiert haben, tun das aus Verantwortung für sich und die Gesellschaft. Und der Rest auf der anderen Seite betont eher stark die individuelle Sicht der Dinge. Das ist auch per se nicht illegitim, sehr stark seine egoistische oder individuelle Sicht der Dinge und seine Interessen zu artikulieren. Und es gibt noch diejenigen, die wirklich ein schmutziges politisches Süppchen kochen, die unser demokratische und liberale System untergraben wollen. Wir erleben Parteiverdrossenheit, Politikverdrossenheit, bei einer Minderheit jetzt noch Demokratieverdrossenheit, die sich damit nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlt und sich vor allem nicht mehr so verhält. Da kommt die große Ablehnung der Mehrheit her, weil sich die Minderheit unsolidarisch zeigt und abseits des gemeinsamen Wertekonsenses bewegt.

Meistgelesen