Bielefelder Seuchen-Experte: "Wir müssen unsere Art zu leben ändern"

Herr Razum, Sie befassen sich beruflich mit Seuchen. Was fällt Ihnen dabei in der aktuellen Situation auf?Oliver Razum: Mich erstaunt es, wie wir über diese Pandemie sprechen; so, als ob es so etwas nie zuvor gegeben hätte. Dabei hatten wir im 20. Jahrhundert die Pocken, die bis zu ihrer Ausrottung 300 Millionen Todesopfer gefordert haben. Die Kinderlähmung war eine Pandemie, bis in die 1950er- und 1960er-Jahre betraf sie auch Deutschland. Und HIV gibt es noch, bisher sind 32 Millionen Menschen an Aids gestorben. Das scheint vergessen. Weil bei diesen Pandemien Freiheiten und Grundrechte nicht massiv eingeschränkt wurden. Wie kommen wir da wieder raus?Auch bei diesen Pandemien waren Freiheiten eingeschränkt. Und wir kommen da wieder heraus unter anderem durch die Impfungen, wie schon bei Pocken und Kinderlähmung. Da sind wir bei Covid-19 auf einem hervorragenden Weg. Perspektivisch kommen wir durch Impfungen an einen Punkt, wo schwere Verläufe sehr selten werden und dann immer kritischer über die Einschränkungen geredet werden muss. Manche Politiker vermitteln den Eindruck, die Einschränkungen ewig beibehalten zu wollen.Ich bin mir sicher, dass das Ziel die Rückkehr zu einem normalen Leben ist, auch für Politiker und Wissenschaftler, die strikte Maßnahmen propagieren. Die Impfungen sollen der Ausweg aus der Pandemie sein. Aber sind sie ohne Risiko?Jede Impfung ist ein Abwägen von Risiken. Bei Corona erscheint mir das Abwägen sehr eindeutig zu sein. Es gibt sehr selten schwere Nebenwirkungen der Impfung, aber viel öfter schwere Covid-19-Verläufe. Aber das muss jeder für sich abschätzen. Ich jedenfalls habe keine Sekunde gezögert, mich impfen zu lassen. »Moderne Impfstoffe sind viel besser als die früheren« Apropos Risikoabwägung: Warum sollten sich 20-Jährige impfen lassen? In ihrer Altersgruppe gibt es so gut wie keine schweren Verläufe oder gar Tote.In der Tat ist das so. Doch wenn alle infiziert werden würden, würde es doch vermutlich eine größere Zahl an schwer Erkrankten selbst in diesen Altersgruppen geben. Denken Sie beispielsweise an jüngere Menschen mit Behinderungen oder bislang nicht erkannten Vorerkrankungen oder sozial Benachteiligte. Und das Risiko bei 50- oder 60-Jährigen wird auch geringer, wenn die Fallzahl in der Bevölkerung insgesamt niedriger ist. Die Geschichte der Impfungen ist nicht so blitzsauber, wie sie oft dargestellt wird.Ja, Impfungen sind nicht per se gut. Es gibt immer Vor- und Nachteile. Die Pockenimpfung war zum Beispiel nicht gut verträglich. Aber daran gab es keine Kritik, weil Pocken eine grässliche Krankheit waren. Da es auch mit anderen Impfstoffen immer wieder Überraschungen gab, sind sie nicht das Alleinmittel, um mit allen Krankheiten fertig zu werden. So gab es bei der Impfung gegen Kinderlähmung eine Variante mit abgeschwächten Viren, die sich in seltenen Fällen als krankmachend herausstellte. So etwas könnte auch jetzt wieder passieren, oder?Der Charme der neuen Impfstoffe, zum Beispiel auf Basis von mRNA ist, dass diese Nebenwirkung nicht auftreten kann. Moderne Impfstoffe sind viel besser als die früheren. Wann ist die so genannte Herdenimmunität erreicht?Das ist von Krankheit zu Krankheit verschieden und muss sich bei Covid-19 noch herausstellen. Ich könnte mir vorstellen, dass in Zukunft immer wieder geimpft werden muss, ähnlich wie bei der Grippe-Impfung. Was sagen Sie zur Diskussion über die einzelnen Impfstoffe?Wenn ich zurückblicke auf die Geschichte der Impfungen, und wie lange es dauerte, Impfstoffe zu entwickeln, dann grenzt es an ein Wunder, dass innerhalb von weniger als einem Jahr gleich mehrere Covid-Impfstoffe zur Verfügung stehen. Das ist großartig. Die Unterschiede zwischen den jetzt verfügbaren Impfstoffen sind im Alltag nicht gravierend. Es ist gut, dass es verschiedene Impfstoffe gibt, denn sollte bei einem eine schwächere Schutzwirkung oder ein Risiko bekannt werden, kann man auf die anderen zurückgreifen. Wir Menschen versuchen, Alter, Krankheit und Tod zu vermeiden. Das ist verständlich, aber der Erfolg ist sehr durchwachsen.Wir haben in der Vergangenheit viele gesundheitliche Gefahren in den Griff bekommen. So ist die Zahl der Verkehrstoten pro Jahr in Deutschland von 21.000 im Jahr 1970 auf etwa 3.000 reduziert worden, trotz der Zunahme des Straßenverkehrs. Auch durch die Interventionen beim Rauchen wurden viele Leben gerettet. Bei Infektionskrankheiten haben die Einzelnen einen begrenzten Einfluss auf das Risiko. Wenn eine Pandemie unkontrolliert durchläuft, haben bestimmte Gruppen ein deutlich höheres Risiko zu erkranken und zu sterben. Einstige Infektionskrankheiten sind verschwunden, weil wir nicht mehr ungeschützt Kälte und Feuchte ausgesetzt sind, besser ernährt sind und sauberes Wasser trinken.Sicher hat der Wohlstand einen großen Beitrag geleistet, aber der Schutz vor hochansteckenden Infektionen ist auch eine Errungenschaft der Medizin. Wenn wir über Epidemien oder Pandemien sprechen, vergessen wir da nicht die unfassbar hohe Zahl an chronisch Kranken?Nein, denn das ist in den Gesundheitswissenschaften gut bekannt. Wir sprechen von einer Epidemie der chronischen Erkrankungen. Die gibt es, weil Menschen älter werden und weil Wohlstand und Lebensstil – zu wenig Bewegung, zu viele Kalorien – Schattenseiten zeigen. Wie stehen wir im Vergleich mit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 und der Hongkong-Grippe von 1969/70 da? Wir haben dazugelernt. Zur Zeit der Spanischen Grippe gab es ähnliche Diskussionen wie heute. Braucht es Schutzmaßnahmen, wie wirksam sind sie? Was nutzen Mund-Nase-Schutz und Händewaschen? Es gab unterschiedliche Einschätzungen. Das Beispiel von zwei Samoa-Inseln zeigt, wie sie sich ausgewirkt haben. Die eine Insel hatte sehr strikte Quarantänevorschriften, die andere keine. Auf der einen Insel gab es keine Todesfälle, auf der anderen starb ein Viertel der Bevölkerung. Es gibt heute Entscheidungen, die offensichtlich keinen Sinn ergeben, andere, die nützlich wären, sind kein Thema.Auch ich frage mich bei manchen Einschränkungen: Was soll das? Aber wir lernen schrittweise. Bei der Ausbreitung der Grippe spielen junge Menschen eine wichtige Rolle. Anfangs wurde deswegen befürchtet, dass Schulen eine zentrale Rolle bei der Corona-Verbreitung spielen. Im Nachhinein gesehen wurde ihre Rolle als Infektionstreiber eher überbewertet. Oder nehmen wir Schweden. Das Land ist im Vergleich sehr zurückhaltend mit Vorgaben, aber das ist nicht gut aufgegangen, da es zu einer hohen Zahl von Toten gekommen ist. Das stimmt zumindest aktuell nicht mehr. Schweden hat zwar deutlich mehr positive Fälle, testet mehr, hat aber inzwischen in Relation weniger Todesfälle als Deutschland und zugleich viel mehr Freiheit und Lebensqualität, die sehr viele Deutsche so sehr vermissen.Länder unterscheiden sich in mehr als nur ihren Lockdown-Politiken. Daher sind solche Vergleiche zugegebenermaßen schwierig. Zu Beginn der Pandemie gab es in Schweden unbestreitbar eine deutliche Übersterblichkeit, besonders unter Älteren. Im Nachbarland Norwegen, das auf strengere Maßnahmen setzte, gab und gibt es die nicht. Warum fällt es so schwer, nachvollziehbare Regeln zu machen?Weil es sich um ein komplexes und so noch nicht dagewesenes Geschehen handelt. Auf der einen Seite gibt es Klagen, wenn kein Mensch weiß, welche Regel wo gilt, zum anderen wirkt es holzschnittartig, wenn generelle Einschränkungen erlassen werden. Dieses Problem wird uns weiter begleiten und ständig neue Aushandlungsprozesse erfordern. »Der Inzidenzwert hat eine Reihe von Nachteilen« Es gibt Kritik daran, den Inzidenz-Wert zum entscheidenden Faktor zu machen. Wie sehen Sie das?Man kann mit Recht sagen, dass die Zahl der schweren Fälle auf den Intensivstationen auch ein wichtiger Faktor ist. Man will aber nicht hinterher regulieren – die Intensivstationen sollen sich erst gar nicht füllen. Der Inzidenzwert hat zwar eine ganze Reihe von Nachteilen, zum Beispiel hängt er davon ab, ob mehr oder weniger getestet wird, aber einen gewissen Hinweis über die Dynamik der Pandemie gibt er schon. Bei der Lagebeurteilung wird aber die ganze Entwicklung betrachtet, mit Todesfällen, Kliniken-Auslastung, Impfzahlen und mehr. Besteht nicht die Gefahr, ewig im Lockdown hängen zu bleiben, wenn der Inzidenz-Wert dominiert?Das ist eine wichtige Diskussion, die wir weiterführen müssen. Jegliche Einschränkungen müssen regelmäßig hinterfragt werden. Hinterfragen müssen wir aber auch, wie wir uns für die Zukunft aufstellen. Ein unbequemes Nachdenken über die Art und Weise, wie wir leben und wirtschaften, muss kommen. Sonst steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Pandemien wiederholen.

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