Warum Corona Migranten offensichtlich härter trifft

Bielefeld. Von mehr als die Hälfte bis fast alle – so schätzen Krankenhausmitarbeiter aus unterschiedlichen Kliniken in und außerhalb Bielefelds den Anteil von Migranten an den Covid-19-Patienten ein. Herkunft oder Ethnie werden zwar nicht offiziell erfasst, aber es gibt offenbar deutliche Indizien dafür, dass vor allem türkischstämmige und russischstämmige Menschen von schweren Verläufen der Coronavirus-Infektion betroffen sind. Die Suche nach möglichen Gründen dafür führt zu Gesellschaftsfragen und erinnert an einen deutschlandweiten Skandal aus dem Jahr 2020. Aus Unwissenheit oft schlechter versorgt Cemalettin Özer wundert sich kaum über die Beobachtung aus den Krankenhäusern. &bdquo;Die Gastarbeiter der ersten Generationen haben schwer arbeiten müssen in ihrem Leben und sind deshalb eher kranker und schwächer als der Durchschnitt", sagt der Vorstand von &bdquo;Binemo", dem Netzwerk der Migrantenorganisationen in Bielefeld. Jahrelang schufteten viele Gastarbeiter in der Schwerindustrie. Das hat ihren Körpern zugesetzt. Hinzu kommt, dass sie oft aus Unwissenheit über das deutsche Gesundheitssystem schlechter versorgt sind. »Wir würden unsere Alten nie in Altenheime geben« Murisa Adilovic, Vorsitzende des Integrationsrates, ergänzt diese Erklärung mit häufig &bdquo;prekären Lagen", in denen sich mehr Migranten als Herkunftsdeutsche befänden. Sie müssten in der Regel mehr arbeiten für weniger Geld und wohnten beengter. Viele, auch die &bdquo;Neuzuwanderer", hätten kaum Zeit, sich groß um ihre Gesundheit zu kümmern. Dass das zutreffend ist, belegt allein schon die organisierte Hilfe des DRK, die Migranten mit Erfahrung Neuzuwanderern das deutsche Gesundheitssystem erklären lässt. "Es müssen persönliche Gespräche sein" Ein weiterer Punkt sind sprachliche Barrieren. Zwar gibt es von offiziellen Stellen Übersetzungen in allen wichtigen Sprachen, doch zahlreiche, vor allem ältere Migranten, nutzen weder Internet noch deutsche Medien. Sie bekommen allenfalls die aktuelle Lage von ihren Nachkommen erklärt. Hanane El Alaoui hat ihre Eltern schon mehrfach aufgeklärt. El Alaoui ist Projektleiterin bei Binemo und Tochter von marokkanischen Eltern. Die bekommen über die üblichen Wege - deutsches Fernsehen und Internet - relativ wenig mit, was läuft. &bdquo;Es müssen persönliche Gespräche sein", sagt sie deshalb. "Bestimmte Gruppen erreichen wir unterdurchschnittlich" Dem würde der städtische Krisenstabsleiter Ingo Nürnberger zustimmen, denn auch er hat festgestellt, &bdquo;dass wir bestimmte Migrantengruppen weit unterdurchschnittlich erreichen". Nürnberger überlegt, diese Gruppen gezielter anzusprechen, entweder persönlich, über Multiplikatoren oder mit Plakaten in ihren Vierteln. Das könnte etwa geschehen, um die Menschen über die Impfkampagne aufzuklären. Soziale Züge vs. Abstandsgebote Die Ursachensuche führt auch zu den Wohn- und Familienverhältnissen. Zuwanderer sind im Durchschnitt ärmer und leben auf engerem Raum. Außerdem ist ihr Familienzusammenhalt stärker als es bei Herkunftsdeutschen üblich ist. Das gilt auch für Russlanddeutsche. &bdquo;Wir würden unsere Alten nie in Altenheime geben", sagt Anna Seiwald, Russlanddeutsche aus dem Binemo-Vorstand. Sie selbst teilt sich die Pflege der 94-jährigen Oma mit weiteren Familienangehörigen. Oma möchte oft besucht werden. &bdquo;Sie sagt immer: Für mich ist sterben, wenn ich allein bin." Also wird sie besucht von ihren Liebsten. Das ist normal unter den Russlanddeutschen. Da unterscheiden sie sich nicht von vielen anderen Migranten. &bdquo;Die Familie ist das A und O bei den Marokkanern", sagt auch Hanane El Aloui. Diese starken – und schönen – sozialen Züge passen nur nicht so gut in eine Zeit mit Abstandsgeboten. Viele gehen nur ungern zu Ärzten Verständnisprobleme, sagt Seiwald, spielten bei Russlanddeutschen keine Rolle, alle würde gut Deutsch sprechen oder zumindest verstehen. Parallelen zu anderen Migrantengruppen gibt es hingegen, was die körperliche Verfassung der Eltern- und Großelterngeneration betrifft. &bdquo;Viele haben schwer gearbeitet, meine Oma hat in ihrem Leben keinen Tag Urlaub gehabt." Zu Ärzten ging diese Generation zudem äußerst ungern, vor allem die Männer. So erklärt Seiwald sich die offensichtlich größere Corona-Empfindsamkeit. Das allein sind reichlich Ansätze für die kolportierte Über-Repräsentanz von Migranten bei Covid-19. Seiwald aber verschweigt auch nicht, dass partiell spezielle religiöse Gruppen hinzukämen, deren Glauben besage, &bdquo;alles sei Gottes Wille, und alles habe Gott gebracht", wie sie erklärt. Das schwäche bei manchen das Problembewusstsein. Ausschlaggebend aber sind vermutlich die sozialen Umstände. Der Fall Tönnies vom Sommer 2020 untermauert das. Die damals rund 1.500 Corona-infizierten Schlachthausmitarbeiter aus anderen Ländern lebten und arbeiteten unter Bedingungen, die kaum ein Deutscher akzeptieren würde. Diese Umstände waren es auch, die den Corona-Hotspot auslösten.

Meistgelesen