Besonderer Einblick: So erlebt ein Bielefelder Chefarzt die Corona-Pandemie

Bielefeld. Das Coronavirus bestimmt derzeit unseren Alltag. Die vielen Geschichten rund um unser Leben mit dem Virus fasst die Neue Westfälische in dieser täglichen Rubrik zusammen. Tipps für diese trüben Tage Die Coronasituation stellt uns alle vor ganz neue Fragen und Herausforderungen. Wir spüren Einschränkungen, aber wir spüren auch die Verbundenheit untereinander in unserem Netzwerk &bdquo;Wir für uns – anders altern", das jetzt seit fünf Jahren besteht und in Bielefeld und Werther über 100 Mitglieder hat. Regelmäßige Gruppentreffen, Ausflüge, Museums- und Kinobesuche oder der Englisch-, Französisch oder Italienischkurs: Die ganzen schönen Aktivitäten, die wir auf die Beine gestellt haben, müssen nun ruhen. Und auch vieles, was wir sonst täglich haben, gibt es nicht mehr: der spontane Besuch bei der Freundin, die Geburtstagsfeier, das Sitzen im Café, Theater, Konzert, und selbst unsere Liebsten können wir nur noch im ganz kleinen Kreis zu Grabe tragen. Wir erfahren, wie schnell radikale Veränderungen unseres Lebens möglich sind, wie verletzlich wir sind. Und da ist auch gleichzeitig ein bisher unbekannter zunehmender innerer Stress zu spüren, gespeist durch Unsicherheit, Angst, Überflutung mit E-Mails, Nachrichten jedweder Art.Andererseits freuen sich viele Mitglieder gerade jetzt über unsere Rundmails mit Tipps für diese trüben Tage: Anne informiert über ein tolles Angebot vom BR-Klassik: kostenlos Hörbiografien hören mit der BR-Klassik-App. Hildegard schickt Literaturtipps, Viola schickt ein mutmachendes Blumenbild zum Frühlingsanfang. Warum nicht jetzt wie früher in der Schule eine Telefonkette machen und mal den anrufen, der vor oder hinter einem steht, und fragen, wie es ihm oder ihr wirklich geht? Gabriele Sonnenberg (70), Netzwerk &bdquo;Wir für uns – anders altern" Crashkurs in ganz vielen Themen Seit ungefähr einem Monat sind wir jetzt also im Corona-Modus. Für mich bedeutet das – nach meinem Skiurlaub in Norwegen Ende Februar –, plötzlich nur noch ein Thema zu haben: eben dieses Virus und dessen Eindämmung in Bielefeld. Ich lerne sehr viel dabei. Ich habe mein (schon immer beschränktes) Biologiewissen aufgefrischt (&bdquo;Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Bakterien und Viren?"). Der Unterschied zwischen &bdquo;linear" und &bdquo;exponentiell" war mir auch noch nie so klar wie heute. Ich lernte schöne Worte wie &bdquo;Nies-Spuck-Schutz" (das sind aufgestellte Plexiglaswände) oder &bdquo;Umlastung" (so nannte der Polizeivertreter den Vorgang, eine Person von A nach B zu bringen, zum Beispiel ins Polizeigewahrsam). Ich bekomme das eine oder andere mit über die komplexen Abläufe in Krankenhäusern oder wie die Kassenärztliche Vereinigung arbeitet. Ehrlich gesagt, dieser Crashkurs in ganz vielen Themen ist für mich persönlich bereichernd. Natürlich ist es stressig. Wir mussten innerhalb kürzester Zeit im Krisenstab viele Entscheidungen treffen – und zwar unter großer Unsicherheit. Niemand von uns weiß, wie stark sich das Virus wirklich ausbreiten wird in Bielefeld und mit wie vielen schwerkranken Menschen wir wirklich rechnen müssen. Als wir Mitte März als einer der ersten Kommunen quasi alle Veranstaltungen verboten haben, ging mir schon ganz schön die Düse – immerhin hängen da unzählige Arbeitsplätze und ein innovatives Unternehmertum dran. Wenige Tage später zogen andere Kommunen und das Land nach, offensichtlich lagen wir mit unserem Kurs richtig. Auf jeden Fall bin ich froh, dass der Anstieg an Neuinfizierungen gebremst ist und wir heute spürbar weniger coronakranke Menschen im Krankenhaus versorgen müssen als viele andere vergleichbare Kommunen. Beeindruckend finde ich auch, wie viel ehrenamtliches Engagement entstanden ist, um anderen Menschen zu helfen – wenn sie in Quarantäne sind und sich nicht versorgen können. Oder einfach älter und sich nicht mehr nach draußen trauen. Auch ganz viel Innovation ist entstanden – die neuen Geschäftsmodelle der Altstadt-Kaufleute oder neue und moderne Angebote der freien Wohlfahrt. Ich bin mir beispielsweise sicher, dass die Offene Kinder- und Jugendarbeit sich durch Corona nachhaltig verändern und &bdquo;digitaler" sein wird. Vor allem aber ist Corona trotzdem ein Fluch (aber keine Strafe Gottes, wie manche Fundamentalisten behaupten). Viele Menschen sind davon schwer krank geworden. Auch in Bielefeld ist nun der erste Mensch daran gestorben, viel zu jung. Die Arbeitslosigkeit steigt, hoffentlich nur kurzfristig. Unternehmer kämpfen trotz der Schutzschirme ums Überleben. Deshalb ist es ganz wichtig, dass so viele dabei mithelfen, das Virus einzudämmen – die unglaublich fleißigen Mitarbeiter im Gesundheitsamt, bei Polizei und Ordnungsamt, ganz viele Kollegen der Stadt. Und alle Bielefelder, die sich an die Regeln halten. Dann ist hoffentlich der Spuk bald vorbei und wir können uns wieder normal begegnen.Ich bin neugierig, was wir alle aus dieser &bdquo;Corona-Zeit" mitnehmen. Und was wir gemeinsam daraus lernen. Ingo Nürnberger (47), Krisenstabsleiter der Stadt Die Familie ist zusammengerückt Corona beherrscht das öffentliche Leben und uns alle nun schon seit einigen Wochen. Obwohl wir in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin glücklicherweise noch immer keine Patienten mit bestätigter Corona-Infektion behandeln mussten, dreht sich der ganze klinische Alltag in großen Teilen um dieses eine Thema. Sitzungen der Einsatzleitungen, Task-Forces, Mitarbeitergespräche, Hygiene-Leitlinien, Stationsbesprechungen, die Gedanken und Gespräche kreisen sehr viel um Corona. Das alles fühlt sich für mich fast surreal an, wenn ich auf der komplett freigeräumten, aber eben noch nicht mit Patienten belegten Kinderstation für Corona stehe. Dann bestärke ich mich und meine Mitarbeiter: Die guten Zahlen, die wir insbesondere hier in Bielefeld haben, die im Verlauf weniger werdenden Neuinfektionen und die insgesamt geringe Sterblichkeitsrate in Deutschland, das alles sind auch Erfolge eines gut aufgebauten und funktionierenden Gesundheitssystems und der vielen gefühlt harten und strengen Maßnahmen, denen wir uns alle unterwerfen müssen. Hier sollten wir jetzt nicht den Fehler machen, wirtschaftliche Rezession und Menschenleben gegeneinander aufzurechnen, sondern müssen uns weiterhin darüber im Klaren sein: Wir schaffen das, aber nur, wenn wir weiter den gewählten Kurs verfolgen, wir sind ein starkes, reiches und solidarisches Land, welches auch diese Krise meistern wird. Persönlich ist das Thema noch einmal in dieser Woche ganz nah an mich herangetreten: Ein guter Freund und Kollege ist am Corona-Virus erkrankt, er liegt beatmet und in kritischem Zustand auf der Intensivstation eines Krankenhauses, die Berichte klangen zunächst sehr bedrohlich, Gott sei Dank geht es ihm nun schon wieder etwas besser. Das zeigt mir aber ganz deutlich: Diese Erkrankung ist nicht surreal, sondern kann jeden von uns und auch mich treffen, die vielen Härten, die wir alle auf uns nehmen müssen, sind gerechtfertigt und sinnvoll.Diese Solidarität spüre ich auch bei mir zu Hause. Unser 17-jähriger Sohn, der nun eigentlich im Abitur steht, kommt recht gut mit der Situation zurecht. Das mag daran liegen, dass in dieser Altersklasse die sozialen Kontakte ohnehin sehr viel auf elektronischem Wege funktionieren, er versteht die Problematik gut und fügt sich in sein Schicksal. Meine Frau hat anfänglich sehr unter der Einschränkung der sozialen Kontakte gelitten, Besuche bei und von Freunden, Doppelkopfrunden, Yoga oder gemeinsame Spaziergänge mit dem Hund, all das fällt plötzlich weg. Umso mehr freuen wir uns, dass nun ganz unverhofft zwei unserer erwachsenen Kinder (vorübergehend) bei uns eingezogen sind, die eine als Berufsanfängerin mit ihrer ersten Stelle als Ärztin in einem Krankenhaus in Bielefeld, die andere nach erfolgreichem Bachelor und nun, wie so viele, mit der großen Schwierigkeit, in dieser Situation, einen Job zu finden oder die nahe Zukunft zu planen. Wir sind alle zusammengerückt und sind glücklich, dass wir alle noch gesund geblieben sind und uns als Familie stärken und zusammenhalten können. Das wünsche ich allen Lesern auch von Herzen. Eckard Hamelmann (56), Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin EvKB Der Wert der Debatte Diesen Donnerstag nahm ich im Rathaus an der Ratssitzung teil. Jede Fraktion und Gruppe war nur teilweise vertreten. Die Kollegen nicht mit Handschlag zu begrüßen, nicht für ein kleines Gespräch kurz die Köpfe zusammenstecken zu können – das ist ungewohnt und hat auch etwas Beklemmendes.Wir hatten uns alle darauf geeinigt, keine Aussprachen zu führen, um nicht länger als 15 Minuten zu tagen. Manchmal sind die Debatten ja etwas ermüdend und erwartbar, und viele stören sich am politischen Streit, halten ihn für entbehrlich. Aber wenn er nicht zu hören ist, merkt man erst den Wert der Debatte. Wenn niemand die Gründe darlegen kann, warum etwas befürwortet oder abgelehnt wird, leidet der demokratische Austausch, der Wettbewerb der Ideen. Ich fand es auch sehr schade, dass der verstorbenen Kollegin der Linkspartei, Barabara Schmidt, nur recht eingeschränkt gedacht werden konnte. Normalerweise würde der politische Betrieb jetzt nach einer letzten hektischen Woche mit vielen Partei- und Gremiensitzungen in die Osterpause gehen. Dieses Jahr machen die Ferien keinen so großen Unterschied. Auch das ist schade. Jan Maik Schlifter (44), FDP-Ratsherr und Oberbürgermeisterkandidat Bielefeld schreibt Tagebuch (14): 19-Jähriger ist 33 Stunden unterwegs - und jetzt glücklich bei seiner Familie Bielefeld schreibt Tagebuch (12): Was dieser Bielefelder Schauspieler jetzt macht Bielefeld schreibt Tagebuch (11): Bielefelderin traut sich in Corona-Geisterstadt nach Jahren wieder ans Auto-Steuer Bielefeld schreibt Tagebuch (10): Abitur 2020: Corona-Krise zermürbt Bielefelder Schüler Bielefeld schreibt Tagebuch (9): Bielefelder Familie von heute auf morgen ohne Einkommen Bielefeld schreibt Tagebuch (8): Warum die Corona-Krise für diese Schule eine Chance ist Bielefeld schreibt Tagebuch (7): Corona-schulfrei: "Langsam wird es echt langweilig" Bielefeld schreibt Tagebuch (6): "Jede Krise bietet auch Chancen" - für Mila (5), einen Touristiker und eine Hochschule Bielefeld schreibt Tagebuch (5): Eventmanagerin "Gefühl völliger Ohnmacht" Bielefeld schreibt Tagebuch (4): Das sagt Arminia-Präsident Laufer Bielefeld schreibt Tagebuch (3): So erleben diese Menschen die Corona-Krise Bielefeld schreibt Tagebuch (2): So erleben diese Menschen die Corona-Krise Eine Stadt schreibt Tagebuch (1): So erleben sechs Bielefelder die Corona-Krise Alle aktuellen Entwicklungen in der Corona-Krise in Bielefeld im Liveblog der Lokalredaktion

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