So werden Sie 100 Jahre alt

Bielefeld. Als Irmgard Pilgrim das Licht der Welt erblickt, tobt der Erste Weltkrieg. 105 Jahre später sitzt sie im Bielefelder Altenheim und macht Gymnastik. Wie hat sie es geschafft, so alt zu werden? Auf diese große Frage geben Irmgard Pilgrim und vier weitere Bielefelder, die 100 und älter sind, ganz verschiedene Antworten. Mediziner Heiner Berthold erklärt, wie soziale Kontakte unser Leben prägen und welchen Einfluss zum Beispiel Ernährung, Lebensstil und die Gene haben. Daraus haben wir neun Faktoren bestimmt, die eine lebensverlängernde Wirkung haben können. 1. IN BEWEGUNG BLEIBEN Bewegung – der zentrale Punkt für ein langes Leben. Das ist das Patentrezept von Elfriede Bösling (102 Jahre). Bis ins hohe Alter war die Bielefelderin leidenschaftliche Tänzerin. Und mit ihrem Ehemann reiste sie um den ganzen Globus. Höhepunkt war eine Weltreise in 86 Tagen. &bdquo;Beides hat mich fit gehalten." Das bestätigen W. Maciejewski und Irmgard Pilgrim. W. Maciejewski wohnt im vierten Stock, nimmt mit seinen 100 Jahren noch immer täglich 65 Treppenstufen, um seine Wohnung zu verlassen. Irmgard Pilgrim (105 Jahre) ging bis ins letzte Jahr täglich zwei Kilometer lang im Stieghorster Park spazieren, häufig allein. Bis zu ihrem 75. Lebensjahr bewegte sie sich beim wöchentlichen Frauen-Turnen. Und im Altersheim macht sie mittlerweile täglich 15 Minuten lang Gymnastik – mit 105 Jahren. 2. ERNÄHRUNG Unumstritten ist die Bedeutung von gesunder Ernährung, sagt Heiner Berthold, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Geriatrie am Evangelisches Klinikum Bethel (EvKB). Doch bei konkreten Handlungsempfehlungen sei Vorsicht geboten. Eine Hand voll Nüsse pro Tag sei gut, auch Kaffee, Tee und Alkohol in Maßen können das Leben verlängern. Vegetarier lebten zwar gesünder, aber nicht automatisch länger, so Berthold. Ein Blick auf die japanische Insel Okinawa kann helfen. Dort leben die meisten Hundertjährigen der Welt. Ihre Mahlzeiten bestehen aus kalorienarmer Kost mit hoher Nährstoffdichte: viel Gemüse, dazu Sojabohnen, Obst, fettarmes Fleisch und frischer Fisch. Was gar nicht geht: rauchen. &bdquo;Das ist unbestritten weltweit der Killer Nummer 1", so Berthold. 3. FAMILIE UND FREUNDE Wichtig sind auch soziale Faktoren: Irmgard Vahlenkamp weiß, wie entscheidend der familiäre Zusammenhalt in ihren 100 Lebensjahren war. &bdquo;Familie ist für mich ganz wichtig; meine Kinder haben mich oft mit in den Urlaub genommen. Das gab mir Kraft." Heiner Berthold bestätigt wiederum, wie schmerzhaft für Menschen im hohen Alter der Verlust ihres Partners sein kann. &bdquo;Auch das kann die Lebenserwartung verkürzen." 4. SOZIALE KONTAKTE Einsamkeit und wenige soziale Kontakte sowie Armut können laut Berthold dazu führen, dass Menschen früher sterben. Gerda Welp (100) war als Inhaberin eines kleinen Bielefelder Tante-Emma-Ladens Jahrzehnte lang im Gespräch mit ihren Kunden. &bdquo;Dieser stetige Kontakt zu meinen Mitmenschen hat mir viel Kraft gegeben", sagt Gerda Welp. &bdquo;Gesellschaft mochte ich immer gern. Ich habe mich nie allein gefühlt." 5. GENETIK Die Gene spielen entgegen weit verbreiteter Annahmen eine eher untergeordnete Rolle, sagt Berthold. Experten schätzen sie auf rund sieben bis zehn Prozent. Bei Erkrankungen jedoch ist Genetik wiederum entscheidend. Ein Beispiel: Der Typ 2 Diabetes ist zu etwa 50 Prozent genetisch bestimmt. Betroffene sterben in der Regel 5 Jahre früher. Zumindest am Beispiel von W. Maciejewski scheint sich diese Genetik-These nicht zu bestätigen: Auch seine Schwester hat es bis heute geschafft. Sie ist 99 Jahre alt. 6. FRAUEN Dieser Punkt wird den männlichen Lesern nicht gefallen, aber: Frauen leben länger als Männer, mindestens fünf Jahre. &bdquo;Das war schon immer so und wird immer so bleiben – in allen Gesellschaften", so Berthold. Das zeigte sich auch während der Recherche für diesen Artikel. Die Suche nach männlichen Bielefeldern über 100 Jahren war ausgesprochen schwierig. Ergebnis: 4 Frauen; ein Mann. 7. STRUKTURIERTER ALLTAG Gerda Welp glaubt, dass die Arbeit in ihrem Laden noch aus einem anderen Grund Auswirkungen auf ihr langes Leben hatte. &bdquo;Ich hatte immer etwas zu tun und einen Sinn im Leben." Ihren Beruf habe sie mit Herz und Disziplin ausgeübt. &bdquo;Andere gingen spazieren, ich stand im Laden und war immer da." Bis 2003. Jeden Tag. &bdquo;Als es nicht mehr ging, habe ich das akzeptiert." Noch heute habe ihr Alltag Struktur. Jeden Morgen liest die 100-Jährige die Neue Westfälische. Das aktuelle Weltgeschehen interessiere sie. Auch im Leben von Elfriede Bösling habe Struktur eine große Rolle gespielt. Sie war Bielefelds erste Taxifahrerin – und Tag und Nacht unterwegs. Viel arbeiten und sich ab und zu was gönnen – das helfe. 8. VERANTWORTUNG Auf die Frage, wie Irmgard Vahlenkamp (102) so alt geworden sei, antwortet sie, dass ihr Verantwortungsbewusstsein sie jung gehalten habe. Für ihre vier jüngeren Geschwister habe sie sich stets verantwortlich gefühlt, ebenso für ihren Ehemann, den sie viele Jahre lang zur Arbeit fuhr. Experten sagen: Wer sich um andere kümmert – zum Beispiel um die Enkel oder Vereinsmitglieder – fühlt sich häufig jünger. 9. INNERE EINSTELLUNG &bdquo;Wichtig ist, viel zu lachen", sagt Irmgard Vahlenkamp. Gerda Welp scheint mit sich und der Welt ebenfalls im Reinen zu sein – und liefert ein bemerkenswertes Fazit: &bdquo;Es gab auch mal schlechte Zeiten. Aber eigentlich war alles gut." W. Maciejewski führt auf die Frage nach seinem hohen Lebensalter seine innere Einstellung an. &bdquo;Mein Leben war ein ewiger Kampf", sagt der Bielefelder, der Jahre lang in russischer Gefangenschaft lebte. &bdquo;Aber ich habe mich nie verbiegen lassen – und bin immer standhaft geblieben." Das macht ihn sichtbar stolz. Neben Dankbarkeit und Optimismus gibt es noch einen weiteren Punkt, schreibt der Journalist Klaus Brinkbäumer, der ein Buch zum Thema verfasste und dafür mit 80 100-Jährigen auf der ganzen Welt sprach: Man müsse frühzeitig akzeptieren, wenn Dinge nicht zu ändern seien. Und stattdessen die Dinge tun, die einen wirklich begeistern. Denn das Leben ist kurz – auch mit 100 Jahren. AUSBLICK Der Bielefelder Philosoph Ralf Stoecker sagt: &bdquo;Die Gesellschaft sollte begreifen, dass das Leben nicht mit 60 oder 70 Jahren endet und es dann nur noch ein peinliches und hinauszögerndes ’Bergab’ ist." Die Phase ab 70 habe Vorzüge und ihren Reiz. Das zeige sich daran, dass ein Drittel der über 90-Jährigen nicht pflegebedürftig sei. Mediziner Berthold betont, dass viele heute geborene Mädchen eine Lebenserwartung von 100 Jahren haben. Konkret beträgt sie 95 Jahre für Mädchen bei der Geburt. Ein Drittel wird 100 Jahre alt. Das sei heute nichts Besonderes mehr, so Berthold. Über allem stehe aber das Bestreben, gesund zu altern. &bdquo;Das ist letztlich viel wichtiger als die reinen Lebensjahre."

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