Deportationen aus Bielefeld: Fünf jüdische Schicksale bezeugen das Grauen

Bielefeld. Die wenigsten Reisenden und Passanten bleiben stehen – am Mahnmal für die deportierten und ermordeten Juden vor dem Bielefelder Hauptbahnhof. Wo Pendler und Urlauber heute selbstverständlich die Züge besteigen und über Verspätungen wettern, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus Hunderte Bielefelder, Tausende Juden aus der ganzen Region in den Tod verschleppt. Der Hauptbahnhof ist im Juli 1942 auch Abfahrtsort des ersten Zuges, der ein Ziel ansteuern wird, das zum Inbegriff der perfide orchestrierten Judenermordung des Naziregimes werden wird: Auschwitz. Schicksale und letzte Lebenszeichen dieser Bielefelder bezeugen das Grauen der damaligen Zeit. "Nun ade, du mein lieb Heimatland" ... singen die Deportierten bei der Abfahrt: Am 13. Dezember 1941 werden 420 Juden aus der ganzen Region Minden-Ravensberg/Lippe von Bielefeld ausgehend in das Ghetto im lettischen Riga verschleppt. Unter ihnen sind auch Hildegard und Jakob Stein aus Bielefeld. Ein schrecklicher Auftakt: Es ist der erste Zug, der Menschen aus Bielefeld in Lager und Ghettos im Osten transportiert. Und es ist der einzige Transport der Personenwagen statt der späteren Vieh- und Güterwaggons nutzt. Nur 47 Menschen dieser Deportation werden Krieg und Holocaust überleben. "Macht euch keinen Kummer um mich, bleibt ihr nur gesund" ... schreibt die Bielefelder Geschäftsfrau Thekla Lieber auf einer Postkarte an ihre geflohene Tochter in Brüssel. Was die 60-Jährige zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Der Zug, in dem sie wenige Tage später sitzen wird, bringt sie nicht wie gedacht ins Warschauer Ghetto. Geheimes Ziel ist ein neues &bdquo;Zentrum der Massenvernichtung". Thekla Lieber besteigt am 10. Juli 1942 mit 102 Jüdinnen und Juden aus Bielefeld und der Region einen Deportationszug, der als erster Familientransport deutschlandweit Auschwitz anfährt. Von den Verschleppten dieses Zuges sind keine Überlebenden bekannt. "Nach kaum acht Tagen ist der alte Herr an den Folgen der Strapaze des Transports gestorben" ... berichtet der Überlebende Max Hierschfeld, der nach 1945 Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld wird. Der &bdquo;alte Herr", dessen Tod Hierschfeld bezeugt, ist der Bielefelder Bendix Buchdahl. Der 92-Jährige ist der Älteste unter den 590 Deportierten vom 31. Juli 1942. Nur knapp 50 von ihnen werden den Holocaust überleben. Es ist die mit Abstand größte Deportation aus Bielefeld und ein Genozid der Alten. Er wird sich im Lager Theresienstadt schleichend und stetig allein durch die unmenschlichen Lebensbedingungen vollziehen. Unter den deportierten Jüdinnen und Juden haben die meisten die 65 Jahre bereits überschritten. 152 überstehen dennoch die harten ersten Monate in Theresienstadt – um im September 1942 im Vernichtungslager Treblinka mit Motorabgasen erstickt zu werden. Unter ihnen ist auch das Bielefelder Ehepaar Julius und Emma Löwenstein. "Ich habe mehr Angst als das Kind" ... schreibt die Bielefelderin Irmgard Baer 1943 auf einer Postkarte aus dem Lager Theresienstadt über ihren Sohn Ruben. Der kleine Junge hat seinen Vater nie kennengelernt: Bereits in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 ist Richard Baer ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert worden und an den Folgen von Misshandlungen gestorben. Kleinkind Ruben, sein Bruder Heinz, die Mutter und Großeltern werden im Mai 1942 zwangsweise in eines der rund 20 Bielefelder &bdquo;Judenhäuser" eingewiesen. Von dort werden der Dreijährige und seine Familie am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Mutter und Kinder werden am 12. Oktober in Auschwitz vergast. "Liebe Evi, Vergissmeinnicht" ... sind die letzten Worte, die der erst 11-jährige jüdische Junge Horst Rosenstein seiner Freundin Eva Feldheim in ihr Poesiealbum schreiben wird. Am 2. März 1943 wird er zusammen mit wohl 228 anderen Jüdinnen und Juden vom Bielefelder Hauptbahnhof nach Auschwitz deportiert. 21 Tage nach dem Eintrag im Poesiealbum stirbt der 11-Jährige in der Gaskammer von Auschwitz. Mit ihm werden alle Frauen und Kinder dieser Deportation wenige Tage nach der Ankunft ermordet. Dieser Text ist entstanden unter Verwendung von Material des Bielefelder Stadtarchivs sowie der Bielefelder Holocaustforscher Martin und Brigitte Decker, Kai-Uwe von Hollen.

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