Krankenkasse verweigert beinamputiertem Bielefelder Pflegestufe und E-Rollstuhl

Bielefeld. Willi Thiemann ist ein mutiger Mann. Als der Arzt dem Ubbedissener 2014 eröffnet, dass ihm wegen einer fortschreitenden Durchblutungsstörung beide Beine nach und nach amputiert werden müssen – erst bis zur Wade, dann bis zum Knie, dann bis zum Oberschenkel – trifft er eine drastische Entscheidung. &bdquo;Ich hab' gesagt, dann lieber gleich ganz bis oben." Seit 2015 sitzt Thiemann nun im Rollstuhl. Es ist zugleich der Beginn eines langen Kampfes um angemessene Versorgung: Denn eine Pflegestufe wird ihm nach der Amputation verwehrt. Die Krankenkasse verweigert ihm erst eine Rampe, dann einen E-Rollstuhl. Sein Rechtsbetreuer und Fußballkumpel Robert Fischer erhebt jetzt schwere Vorwürfe. &bdquo;Kein Hilfebedarf" beim Duschen, Gehen,Treppensteigen Thiemanns Antrag auf eine Pflegestufe sei 2015 auf Basis eines &bdquo;sehr zweifelhaften Gutachtens" des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Westfalen-Lippe in Bielefeld abgelehnt worden, das steht für Fischer fest. Dem ehemaligen Sozialversicherungskaufmann kommt beim Blick auf das Papier noch immer die Wut hoch. Eine MDK-Gutachterin bescheinigt darin kurz nach Thiemanns beidseitiger Amputation, der damals 70-Jährige habe &bdquo;keinen Hilfebedarf" beim Duschen, Baden, Umlagern, Entkleiden, Ankleiden, Aufstehen und Zu-Bett-Gehen. &bdquo;Das ist doch blanker Unsinn", sagt Fischer kopfschüttelnd. Viele Details der Körperpflege seien im Gutachten einfach unter den Tisch gefallen. Erhebliche Hilfe brauche ihr Ehemann im Bad und beim Ankleiden bis heute, erklärt Ehefrau Eva. Thiemann hat einen Schwerbehindertengrad von 100 Prozent. Zeitposten für Hilfe bei der Körperpflege: 31 Minuten Es sind nur erste Einträge auf einer langen Liste an Widersprüchen und Ungereimtheiten in Fischers Augen. Beim MDK Westfalen-Lippe sieht man das bis heute anders. Geradezu absurd ist für Fischer, dass dessen Gutachterin in den Punkten Stehen/Transfer, Gehen, Treppensteigen bei Thiemann kurz nach der Amputation 2015 keinen oder nur einen sehr geringen Hilfebedarf sieht. Die Prüferin kommt damals zu dem Schluss, der ehemalige Fassadenbauer benötige 60 Minuten pro Tag Hilfen im Haushalt und lediglich 31 Minuten Hilfe bei der täglichen Grundpflege – 15 Minuten zuwenig für die ehemalige Pflegestufe I. Ein Schock für die Thiemanns. Sie widersprechen, doch eine erneute Prüfung des Gutachtens führt zum selben Ergebnis: keine Pflegestufe trotz Beinamputation. Es ist eine Entscheidung, die die Thiemanns in ihrem Alltag extrem einschränken wird. Zwei Jahre lang ruht die ganze Last der Pflege allein auf den Schultern von Ehefrau Eva. Ohne Pflegestufekeine Rampe für die Treppe vorm Haus Die Krankenkasse AOK Nordwest habe ihnen trotz Rezept vom Arzt auch keine Rampe für die Stufen vor der Haustür bezahlen wollen, sagen sie. Die AOK verweist sie damals stattdessen an die Pflegeversicherung, obwohl Thiemann keine Pflegestufe hat. Ohne Pflegestufe keine Rampe – ein unüberwindbares Hindernis. Das Paar beschließt ins betreute, barrierefreie Wohnen in Ubbedissen umzuziehen. Als Robert Fischer erst 2017 von der schwierigen pflegerischen Situation seines ehemaligen Sportskameraden vom SV Ubbedissen erfährt, bietet er seine Hilfe an. Als Rechtsbetreuer reicht er im Namen der Thiemanns Klage beim Sozialgericht ein: &bdquo;Die Widerspruchsfristen waren zwar verstrichen, aber das Gutachten war ganz offensichtlich unrichtig." Dennoch verlieren die Thiemanns im Sommer 2019 vor Gericht. &bdquo;Der Richter sagte, er könne das Verfahren nicht mehr aufmachen." Spätestens drei Monate nach Erstellung des Gutachtens hätten die Thiemanns bereits Klage einreichen müssen – vier Monate nach der Amputation. &bdquo;So etwas ist doch nicht zumutbar", sagt Fischer. Inzwischen gibt es Pflegegrade: Erhoben wird seitdem nicht mehr der Zeitaufwand für Hilfen, sondern der Grad der Selbstständigkeit Pflegebedürftiger – ein Glück für Willi Thiemann. Er bekommt bei neuer Begutachtung durch einen anderen Gutachter desselben MDK im Jahr 2017 den Pflegegrad 2. Doch wieder gibt es Konfliktpunkte. Fischer reicht erneut Widerspruch ein: &bdquo;Vieles, was im Gespräch mit dem Gutachter besprochen worden war, wurde später im Gutachten des Medizinischen Dienstes nicht mehr berücksichtigt." Das Gutachten vom Sommer 2017 sei in vielen Punkten und ohne Absprache oder Erklärung nach unten ,korrigiert’ worden, in keinem einzigen nach oben. Krankenkasse verweigert E-Rollstuhl für Schwerbehinderten Der MDK sieht zudem in seinem Gutachten keinerlei psychische Einschränkungen bei Thiemann (0 Punkte) – obwohl dem Schwerbehinderten kurz zuvor die Kostenübernahme für einen E-Rollstuhl von der AOK Nordwest mit gegenläufiger Begründung verweigert worden war: &bdquo;Bei Berücksichtigung kognitiver Beeinträchtigungen ist die Versorgung mit einem elektromotorischen Krankenfahrzeug nicht zielführend", befindet der MDK Westfalen-Lippe. Einen Widerspruch sehen dieser und die AOK Nordwest auf Nachfrage darin nicht, da &bdquo;bei der Bewertung der kognitiven Fähigkeiten im Rahmen der Beurteilung eines Pflegegrades andere Begutachtungskriterien zugrunde gelegt werden als beim Führen eines Elektrorollstuhls im öffentlichen Raum", so die AOK. Der MDK schreibt weiter: &bdquo;Es macht einen Unterschied, ob man mit einem Elektrorollstuhl oder einem Rollstuhl ohne Antrieb auf einem öffentlichen Gehweg unterwegs ist." Die aktuelle Diskussion um die Gefährdung durch E-Scooter auf Gehwegen zeige dies deutlich. Begutachtungssystem ist für Laien kaum nachvollziehbar Für Thiemann ist es ein neuer Schlag ins Gesicht: Ein elektrisch betriebener Rollstuhl ist sein großer Wunsch. &bdquo;Damit meine Frau mich nicht immer in Ubbedissen bergauf schieben muss." Sie sei ja auch nicht mehr die Jüngste. Über seine eigene Situation sagt der 74-Jährige: &bdquo;Mir geht’s doch gut." Thiemann ist keiner, der jammert. Seit ein paar Wochen hat er jetzt ein leichter händelbares Elektromobil: nicht von der AOK. Ein Freundschaftsdienst. Alte Sportkumpane von SV Ubbedissen und TuS Leopoldshöhe sowie Freunde und Bekannte aus dem Ort haben zusammengelegt. Thiemann steigen die Tränen in die Augen, als er davon erzählt, so groß ist die Dankbarkeit. Er könne jetzt zum SV Ubbedissen einfach rüber rollen. &bdquo;Und Eva kann nebenher gehen." Das Leben ist für die Thiemanns ein bisschen leichter geworden. Und wie klappt’s mit der Bedienung? &bdquo;Klar, musste ich mich erst daran gewöhnen, aber jetzt komme gut zurecht. Da gibt’s ja nur zwei Hebel", sagt Thiemann. Ende gut, alles gut also? In den Augen des ehemaligen Sozialversicherungskaufmanns Fischer keineswegs. Der Medizinische Dienst vertritt eine andere Sicht Der MDK Westfalen-Lippe sieht auf Anfrage unterdessen keine Beanstandungen im Fall Thiemann: &bdquo;Auch nach Prüfung ist dieser Fall bei uns korrekt gelaufen", so Pressesprecher Olaf Plotke. Zur Ablehnung der Pflegestufe 2015 erklärt er: &bdquo;Es ist ohne Frage ein großes Schicksal, das Herrn Thiemann da widerfahren ist." Doch: &bdquo;Der Umstand, dass jemand im Rollstuhl sitze, führt nicht unbedingt zu einem Pflegegrad, beziehungsweise früher zu einer Pflegestufe." An einigen Beispielen erläutert Plotke die komplizierte Logik hinter den Gutachten: &bdquo;Der Punkt ,Treppensteigen’ im Gutachten zur Pflegestufe bezieht sich auf das direkte Wohnumfeld, in dem es offenbar keine Treppe gab. Gleiches gelte für den Punkt ,Verlassen/ Wiederaufsuchen der Wohnung’. Die Treppenstufen vor dem Hauseingang berücksichtigt das Gutachten an anderer Stelle. Dass &bdquo;kein Hilfebedarf" beim Gehen besteht, ist so zu verstehen, dass Herr Thiemann ja im Rollstuhl sitzt, also nicht geht." Hier zeigt sich in Fischers Wahrnehmung einmal mehr das Grundproblem im aktuellen Pflege- und Begutachtungssystem. Egal, ob Pflegestufe oder Pflegegrad: &bdquo;Wie ein Gutachter genau zu seinem Ergebnis kommt, ist für Betroffene und Angehörige kaum nachvollziehbar. Und deshalb auch kaum anfechtbar."

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