Chronologie der Legionellen-Krise in Bielefeld

Bielefeld. Was geschah zwischen April und den ersten September-Tagen im AWO-Seniorenzentrum in Baumheide? Nach dem Bekanntwerden von Erkrankungen und zwei Todesfällen als mögliche Folgen einer im April festgestellten Legionellen-Kontamination im Trinkwasser des Heimes, erklärte der Betreiber AWO in internen Mails und öffentlichen Stellungnahmen, dass die Probleme mit den Bakterien unter Kontrolle seien. &bdquo;Es ist das Chaos schlechthin", schrieb dagegen eine offenbar verzweifelte Mitarbeiterin in einem Chat-Protokoll unter Kollegen, das der NW vorliegt. Anhand interner und externer Quellen und Dokumente versuchen wir darzustellen, was die Mitarbeiter und Bewohner des Heims zu welchem Zeitpunkt mutmaßlich wussten – und was nicht. Anfang der Krise Die Krise im AWO-Seniorenzentrum Baumheide beginnt mit dem Bekanntwerden von erhöhten Legionellen-Werten im Trinkwasser der Einrichtung als Ergebnis der jährlichen Routine-Beprobung. Wie vom Gesundheitsamt mitgeteilt, soll der höchste gemessene Wert bei 4.300 koloniebildenden Einheiten (KBE) pro 100 Milliliter Wasser gelegen haben. Ab einer Kontamination von 101 KBE/ 100 Milliliter verlangt die Trinkwasserverordnung von den Verantwortlichen zu handeln. Ab einer Belastung von 1.001 KBE in 100 Milliliter muss dies laut Umweltbundesamt &bdquo;umgehend" geschehen. Dazu zählen weitere Proben, die Ursachenforschung, die Sanierung des Trinkwasser-Systems – und konkrete Information für alle Betroffenen. Laut AWO sei das auch so passiert: &bdquo;Die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner sowie der Beschäftigten hat für uns oberste Priorität. Am 8. Juli, nach Bekanntwerden der ersten Erkrankten, haben wir vorsorglich umgehend ein Duschverbot verhängt und den Einbau von Filtern in den Duschen veranlasst", hieß es in einer Stellungnahme. Der erste Krankenhaus-Befund Was allerdings in dem Zeitraum zwischen April und Anfang Juli im Heim alles wegen der Legionellen unternommen wurde, darüber liegen der NW bisher nur wenige Informationen vor. Denn Fragen bleiben unbeantwortet: &bdquo;Ich bitte um Verständnis, dass wir Ihre weiteren Fragen zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten werden. Wir wollen dem Ermittlungsverfahren nicht vorgreifen und halten es für geboten, zuerst den Ermittlungsbehörden Auskunft zu geben", erklärte Sozialdezernent Ingo Nürnberger als Vertreter des Gesundheitsamtes. Doch ein Datum ist gewiss: Am 27 Juni kam die Pflegerin Malgorzata M. wegen katastrophaler Blutwerte ins Klösterchen. Und zu der Zeit muss auch der erkrankte Bewohner P. bereits im Krankenhaus gelegen haben, denn sein positiver Legionellen-Befund vom 4. Juli verursachte den Ausnahmezustand: Einen Tag später ließ das Gesundheitsamt im Heim erneut Wasserproben nehmen. Das war am Freitag. Am Montag darauf verfügte dann die Heimleitung laut AWO-Stellungnahme das erste Duschverbot. In einer Mail hieß es auch, dass wegen erhöhten Legionellen-Werten bei der Routine-Prüfung in den betroffenen Bädern der Bewohner jeweils schützende Filter eingebaut wurden und ab dem folgenden Tag alle Bäder in allen Zimmern diese Legionellen-Filter erhalten sollten. In der Zeit bis zum Einbau der Filter durfte niemand duschen. Der erste Tote Am 13. Juli erhielt das Gesundheitsamt die zweite Krankmeldung wegen eines Legionellen-Falls mit Bezug zum Heim – dabei handelte es sich um den Krankenhaus-Befund der Pflegerin Malgorzata M.. Dann ging es Schlag auf Schlag: Zwei Tage später meldete das Gesundheitsamt das Ergebnis der Kontroll-Probe vom 5. Juli und verhängte ebenfalls ein sofortiges Duschverbot. Denn die höchste Konzentration an Legionellen lag diesmal bei 16.000 KBE / 100 Milliliter Wasser und fiel damit in die höchste Alarmstufe. Noch am selben Tag soll, laut den Mitarbeitern des Heimes, der Senior P. verstorben sein an der schweren Lungenentzündung namens Legionärskrankheit. Sie datierten seinen Tod auf den 15. Juli. Der zweite Tote Die Heimleitung reagierte zwei Tage später mit einem Aushang, der die Bewohner und Besucher vor heißem Wasser in den Leitungen warnen sollte. Aufgrund technischer Maßnahmen müsse die Warmwassertemperatur auf etwa 80 Grad erhitzt werden, dadurch bestehe die Gefahr der Verbrühung. Von einer möglichen Infektionsgefahr durch Legionellen stand nichts auf dem Blatt der Heimleitung im DIN 4 Format. Wiederum zwei Tage später traf der Legionellen-Befund von Judith Kaloga im Amt ein. Zu dem Zeitpunkt wähnte sich die Heimleitung im hygienischen Sinne offenbar bereits in Sicherheit, denn am 26. Juli hob sie laut Mail das Duschverbot wieder auf und lud in einer weiteren Mail zur Personalversammlung ein. Am selben Tag starb Malgorzata M. mit 52 Jahren im Kreise ihrer Familie ebenfalls an den Folgen der Legionärskrankheit. Auf der Personalversammlung am 30. Juli hielten die Teilnehmer laut Gedächtnisprotokoll eine Schweigeminute für die tote Kollegin und Mitarbeiterin, doch soll niemand über die Ursache ihres Todes gesprochen haben. Krisenmanagement In einer Stellungnahme vom 28. August fasst die AWO die Ereignisse des Julis so zusammen: &bdquo;Am 8. Juli, nach Bekanntwerden der ersten Erkrankten, haben wir vorsorglich umgehend ein Duschverbot verhängt und den Einbau von Filtern in den Duschen veranlasst. Erst danach erhielten wir das Ergebnis der Wasserprobe, das an einer Zapfstelle bei 16.000 KBE lag. Zudem haben wir eine thermische Desinfektion aller Wasserleitungen durchgeführt. Unsere Maßnahmen gegen die Legionellen waren erfolgreich, wie entsprechende Wasserproben ergeben haben. Wir lassen weiterhin laufend das Wasser überprüfen." Sicht der Mitarbeiter Die Dokumentation der Mitarbeiter, die aus Sorge um ihren Arbeitsplatz lieber anonym bleiben möchten, liefert jedoch eine etwas detailreichere Version: Laut den Aufzeichnungen der Teilnehmer erfuhren die AWO-Verantwortlichen kurz vor Beginn der am 30. Juli mittags anberaumten Personalversammlung, dass es trotz der Filter weiter erhöhte Legionellen-Werte im Trinkwasser gebe: Die Möglichkeit falsch eingebauter Filter sprach sich herum bis zu den Angehörigen einiger Bewohner. Sie berichteten der NW bereits kurz nach Erscheinen des ersten Artikels (28. August) ebenfalls über das mutmaßliche Problem beim Kampf gegen die Keime. Dritter Filter-Versuch Noch im Verlauf des 30. Julis erfolgte per Mail ein neuerliches Duschverbot: Einen Tag später demontierten die Haustechniker laut Gedächtnisprotokoll alle Filter samt Schläuchen und Duschköpfen. In einer weiteren Mail wurden die Mitarbeiter angewiesen, ab sofort die Spülmaschinen in den Wohnküchen nur noch im heißesten Modus laufen zu lassen. Mitarbeiter mutmaßen, dass zuvor eine mögliche Infektions-Quelle übersehen worden war. Fakt ist, dass die Mitarbeiterin im Sozialen Dienst, Judith Kaloga, am 19. Juli mit einer Legionellen-Infektion in die Klinik kam. Als sie am 2. August nach drei Wochen das Krankenhaus Mitte verlassen durfte, heizten die Techniker im Seniorenzentrum die Wassertemperatur wieder hoch für die nächste sogenannte thermische Desinfektion – das minutenlange Spülen des Leitungssystems mit heißem Wasser. Und erneut hingen die Warnschreiben auf den Fluren des Heimes, abermals ohne Angabe eines konkreten Grundes. Das bestätigten Angehörige der Pflegepatienten der NW. Anonyme Briefe &bdquo;Ein Geschwader von Technikern der AWO und auswärtigen Sanitärfirmen im Einsatz" lautet ein Vermerk für den 7. August. Einen Tag zuvor sei laut Gesundheitsamt die zweite Gefährdungsanalyse bei der Behörde eingegangen. Die AWO musste sie zur Ursachenforschung in Auftrag geben. Die dort fixierten Maßnahmen dienen zur Behebung des Missstandes.Auf den 6. August ist auch das erste anonyme Schreiben datiert, das der NW vorliegt: &bdquo;Wir trauern um eine Kollegin und einen Bewohner, dürfen aber nicht nachfragen", schrieben die &bdquo;Mitarbeiter der Einrichtung". Der kam zusammen mit dem zweiten anonymen Brief vom 25. August in der Redaktion an. Im dritten anonymen Brief schreiben die Verfasser: &bdquo;Wochenlang durften wir nicht reden und trauern. Man hat die Befunde gehabt und uns nicht gewarnt. Waren wir nicht wichtig genug für die AWO und die Stadt?" Der vierte und letzte anonyme Brief wird hier nicht zitiert, sondern geht gleich an die Justiz. Hartnäckige Keime Auch vier Monate nach Bekanntwerden der ersten meldepflichtigen Legionellen-Werte in den Proben der Routine-Untersuchung besteht in dem Seniorenzentrum das Problem weiterhin. Erst am 4. und 5. September erklärten die AWO-Verantwortlichen vor Beschäftigten und Bewohnern sowie deren Angehörigen, dass es bei den Pflicht-Proben wieder zu erhöhten Werten gekommen sei. So viel konnte die NW erfahren: Sieben Proben zeigten Werte von mehr als 100 KBE / 100 Milliliter und drei Proben wiesen Werte auf von mehr als 1000 KBE / 100 Milliliter. Häufigere Wechsel der Sterilfilter und häufigere thermische Desinfektionen sollen Abhilfe schaffen bis zur Sanierung des Hauses.

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