Bielefelder Wissenschaftlerin erklärt: Warum Helikopter-Eltern ihren Kindern schaden

Bielefeld. Julia Brinkschröder (30) lehrt und forscht an der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft der Universität Bielefeld. Nebenbei trainiert die ehemalige Regionalliga-Fußballspielerin die U15-Mannschaft des VfL Osnabrück. Brinkschröder berät den Deutschen Fußball-Bund in Sachen Nachwuchsarbeit. Die Sportwissenschaftlerin erklärt anhand des Fußballs, welche Rolle das Umfeld spielt, welche Werte wichtig sind und was einer Entwicklung im Weg steht. Und warum Wille Talent schlägt. Frau Brinkschröder, Sie trainieren die U15-Mannschaft des VfL Osnabrück. Also Jungs, die 14 und 15 Jahre alt sind. Hören die auf Sie? Oder denken die, eine Frau könne das nicht? Julia Brinkschröder: Da gibt es keine Probleme. Natürlich ist das für die Spieler etwas Neues, sie müssen sich da rein finden. Aber das ist eigentlich kein großes Thema. Keine Sprüche? Brinkschröder: Klar gibt es die. Aber die bekommen auch Männer zu hören. Die wissen, dass sie als ehemalige Regionalliga-Spielerin und A-Lizenz-Inhaberin einiges von Fußball verstehen? Brinkschröder: Man muss sich immer neu beweisen, aber das müssen männliche Trainer auch. Trainer wollen ihre Spieler jeden Tag ein bisschen besser machen, wie es heißt. Was bedeutet das für Sie? Brinkschröder: Für mich gilt das nicht nur auf dem Platz. Jeder Mensch hat Potenzial. Es geht mir darum, das bestmöglich auszuschöpfen. In den Nachwuchsleistungszentren (NLZ) im Fußball haben wir die Situation, dass es durchschnittlich nicht mal jeder zehnte Spieler schafft, alle Jahrgangsmannschaften von der U10 bis zur U19 zu durchlaufen. Auf diesem Weg werden viele Spieler aussortiert oder hören von sich aus auf. Hier setze ich mit meiner Forschung an und mit der Frage, wie das Potenzial der Spieler optimal gefördert werden kann. Ziel ist es, die Anzahl der persönlichen Schicksale von jungen Menschen in diesem Bereich zu verringern und die Ausbildung für die Vereine effektiver werden zu lassen. Der Fokus meines Ansatzes liegt dabei vor allem auf dem Umfeld der Spieler. "Wenn sie scheitern, sollte man nie sagen, dass sie Pech hatten" Warum? Brinkschröder: Weil es eine zentrale Rolle spielt. Wenn es nicht entwicklungsförderlich gestaltet ist, so wie es der Spieler braucht, kann es passieren, dass es Konflikte gibt, die hemmend wirken. An welche Hindernisse denken Sie? Brinkschröder: Etwa, wenn die Eltern nicht hinter dem stehen, was die Jugendlichen machen, oder wenn der Trainer zu viele Vorschriften macht oder nicht entwicklungsförderlich kommuniziert. Die Arbeit mit dem Umfeld ist ein zentraler Punkt, den der deutsche Fußball noch nicht gut entwickelt hat, obwohl es bekannt ist, dass das Umfeld eine große Bedeutung hat, um Potenziale zu entwickeln. Was ist das größte Hindernis aus dem Umfeld? Brinkschröder: Ich hatte schon mit sehr guten Spielern zu tun, die von Zuhause wie vom Leistungszentrum total überversorgt wurden. Ihnen wurden alle Probleme abgenommen. Und dann standen sie auf dem Platz, waren mit neuen Situationen konfrontiert und nicht in der Lage, darauf problemlösend zu reagieren. Verwöhnte Spieler erschlaffen, oder wie muss ich das verstehen? Brinkschröder: Im Prinzip ist es wie im Leben allgemein: Wenn ich nicht lerne, mich einem Konflikt zu stellen, bin ich weder im Beruf noch in der Beziehung oder auf dem Fußballplatz in der Lage, ihn zu lösen. Wenn ich selbst Entscheidungen treffen muss, es aber nie gelernt habe, bin ich schlicht überfordert. Was können Sie als Trainerin machen? Brinkschröder: Wir beraten die Familien der Spieler. Wir zeigen, wie sie ihre Kinder motivieren können. Zum Beispiel besprechen wir, wie sie bestmöglich reagieren, wenn ihr Sohn nicht in den Kader für ein Spiel berufen worden ist. Dann sollte der Grund nicht bei jemand anderem gesucht oder es als Pech abgetan werden. Das ist zwar selbstwertschützend, aber es führt nicht dazu, dass der Spieler an sich arbeiten wird. Was ist stattdessen klug? Brinkschröder: Wenn man sagt, okay, du hast es dieses Mal anscheinend noch nicht verdient und dann fragt, woran es gelegen haben könnte. So wird Reflexion gefördert, und das Nachdenken darüber, was man noch besser machen kann. Wie sind Sie darauf gekommen, dass das Umfeld einen so starken Einfluss hat? Brinkschröder: Ich habe mich international umgeschaut, unter anderem bei Real Madrid, Athletic Bilbao oder dem FC Basel. Die haben andere Ansätze als wir in Deutschland. Sie lassen zum Beispiel die Spieler selbst die Trainingsübungen definieren und die Ziele formulieren. Die Spieler müssen ständig selber Entscheidungen treffen und werden in die Trainingsplanung miteinbezogen. Und sie reflektieren, warum sie etwas machen. Es hat sich gezeigt, dass zahlreiche starke Persönlichkeiten und Führungsspieler aus diesen Vereinen hervorgehen. Sie lernen Selbstverantwortung. Was machen dann die Trainer? Brinkschröder: Sie arbeiten vor allem fragend, etwa, wie es weitergeht, welche Probleme sich zeigen, welche Unterstützung nötig ist. So bleiben die Spieler in der Eigenverantwortung und haben das selbst gesteckte Ziel stets vor Augen. Wir kennen das von uns ja auch: Wenn uns jemand sagt, welches Ziel wir erreichen sollen, wird das oftmals einfach nur abgearbeitet; hat man das Ziel selbst definiert, steht man anders dahinter. Ich will statt ich muss. Welchen Anteil hat die Psychologie bei der Ausschöpfung des Potenzials? Brinkschröder: Am Ende liefert die Psyche die entscheidenden Prozente. Wenn die Spieler für die Leistungszentren gescoutet werden, haben sie von der Physis und der Motorik her in der Regel das Potenzial, ganz nach oben zu kommen. Am Ende schöpfen aber längst nicht alle ihre Möglichkeiten aus. Nur rund drei Prozent der jungen Fußballer aus den Leistungszentren schaffen es zu den Profis. Die wenigsten entpuppen sich als Fehleinschätzung, was das Fußballerische betrifft, aber viele sind nicht in der Lage, hart an sich zu arbeiten. Sie entwickeln nicht die Willenskraft. Ist es besonders schwierig, mit Pubertierenden den Weg zu gehen? Brinkschröder: Zwei Dinge dazu: Zum einen müssen die Spieler in dieser Phase die mentalen Voraussetzungen für den Leistungssport schon erlernt haben, also den Fokus und den Willen. Zum anderen muss Spielern in dieser Lebensphase auch mal Freiheit gestattet werden. Es ist okay, dass sie mal Quatsch machen oder sich mit einer Freundin treffen. Fußball soll keine Belastung sein. Sonst sind sie noch frustriert und hören ganz auf? Brinkschröder: Ja, sie kommen sonst in einen inneren Konflikt, etwa zwischen Freunden und Training. Mit einer Balance können wir deutlich mehr erreichen als mit der Devise: Nur Fußball. Vier Mal Training, ein Spiel in der Woche, die müssen ja sowieso sehr viel Disziplin haben, dazu noch die Schule. Brinkschröder: Die Spieler haben einen wahnsinnig getakteten Alltag, alle den gleichen Tagesablauf und die gleichen Trainingseinheiten. Es wäre an der Zeit, das System auch in Deutschland ein wenig aufzubrechen, um nicht &bdquo;Einheitsbrei" zu produzieren. Aber Deutschland ist doch noch Weltspitze im Fußball? Brinkschröder: Nicht bei den Mannschaften unter der U21, da laufen wir der Weltspitze hinterher. Es gibt eine kleine Krise im Nachwuchsfußball. Das System ist so straff, dass es Typen verhindert. Weil Spieler im Leistungszentrum nach kleinsten Verfehlungen sofort Verwarnungen, danach Verweise kassieren. Es gibt ja genug, die nach nominiert werden können. So bekommen wir nur brave, gleichförmige Spieler. Und ich glaube, ein weiteres Problem ist, dass wir aktuell in den NLZ sehr ergebnisorientiert sind. Jeder will in der Bundesliga mitspielen oder Meister werden. Das führt dazu, dass Spieler sofort ausgetauscht werden, wenn sie nicht mehr funktionieren. Das kostet die Vereine viel Geld und produziert persönliche Schicksale. Es ist jedes Mal ein Drama für die jungen Spieler, wenn sie ein NLZ verlassen müssen. »Straßenfußballer sind oft die Erfolgsbeispiele« Gibt es noch den Typ Straßenfußballer, der von ganz unten nach oben kommen will? Brinkschröder: Ja, die gibt es noch, sie sind oft die erfolgreichen Beispiele. Die wissen: Du musst dir alles erarbeiten. Das ist besser, als wenn der Spieler schon alles hat. Die wissen, dass sie kämpfen und mehr machen müssen. Das hat oft eine ganz andere Dynamik, als wenn schon alles da ist. Das ist eine Mentalitätssache. Früher kamen viele Brasilianer in die deutschen Vereine. Seitdem Brasilien aber das System der Leistungszentren übernommen hat, in denen die Spieler von morgens bis abends durchversorgt werden, ist das vorbei. Die Kämpfermentalität ist ihnen ein Stück weit verloren gegangen. Talent reicht wohl bei weitem nicht aus. Brinkschröder: So ist es. Bist du der Beste im Raum, bist du im falschen Raum. Du musst immer weiter wollen, Herausforderungen suchen, lernen wollen, um besser zu werden. Wille schlägt Talent, heißt es am Ende. Ist Sport eine Schule fürs Leben? Brinkschröder: Was ich im Sport lerne, ist absolut übertragbar auf das Leben. Wer im Sport bereit ist, an sich zu arbeiten, wer Disziplin aufbringt, Eigenverantwortung übernimmt und im Team funktioniert, der wird auch später im Berufsleben deutlich erfolgreicher sein. Lesen Sie auch: Der schönste Mann Deutschlands kommt aus Bielefeld Bielefelder berichtet von Horror-Erlebnissen aus dem Kurheim der Stadt Bielefelder tötet seine Eltern: Obduktion bringt Klarheit

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