Historie

Vor 100 Jahren: Wie Bielefeld zum Schauplatz der Revolution wurde

Morgen jährt sich ein wichtiges geschichtliches Datum, das auch in Bielefeld viel veränderte. Am 9. November 1918 wurde die Republik ausgerufen, der Kaiser dankte ab. In Bielefeld leitete eine Matrosen-Abordnung die Revolution am 8. November ein - eine Analyse des Bielefelder Historikers Hans-Jörg Kühne zum Jahrestag.

Ansprache: SPD-Abgeordneter Carl Severing hielt am 17. November 1918 eine Rede vom Balkon des Rathauses und trug dazu bei, dass die Revolution in Bielefeld gewaltfrei vonstatten ging. | © Stadtarchiv Bielefeld

08.11.2018 | 08.11.2018, 16:55

Bielefeld. Es hatte alles mit einer Meuterei begonnen. Die deutsche Seekriegsleitung gab am 24. Oktober 1918, trotz der im Grunde längst feststehenden Kriegsniederlage, den Befehl zum Auslaufen der Hochseeflotte. Ziel war es, diese gegen die weitaus überlegene britische Kriegsflotte, die Grand Fleet, zu führen und dabei in einer letzten heroischen, gigantischen Seeschlacht, „in Ehren" unterzugehen. Ein militärisch vollkommen sinnloses Unterfangen.

Die deutschen Schiffsbesatzungen meuterten, als sie davon erfuhren. In Kiel und Wilhelmshaven gab es Matrosenaufstände, die sich in Windeseile zu einer Revolution ausweiteten, die das ganze Deutsche Reich erfasste. In Berlin wurde daraufhin am 9. November vom Mehrheitssozialdemokraten Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen. Der Kaiser und die Bundesfürsten dankten ab.

Matrosen kommen nach Bielefeld

In den Tagen zuvor hatten sich überall im Deutschen Reich „Arbeiter- und Soldatenräte" gebildet, die die politische Macht für sich beanspruchten. Auch in Bielefeld. Eine Abordnung Matrosen traf am 8. November in der Stadt ein und konnte viele der hier stationierten Soldaten in der Kaserne an der heutigen Hans-Sachs-Straße auf ihre Seite ziehen.

Diese Menschenmenge zog durch die Straßen und traf am Hauptbahnhof auf den von der Stadtverwaltung zu Hilfe gerufenen Carl Severing, der seit 1903 SPD-Reichstagsabgeordneter war. Seine große Fähigkeit bestand im Beschwichtigen, im Suchen nach Ausgleich, gepaart mit einer bei vielen Sozialdemokraten jener Zeit anzutreffenden Bereitschaft, sich den Idealen des liberalen Bürgertums anzunähern.

"Volksrat" am heutigen Kesselbrink

Von Revolution keine Spur. Severing mahnte die tatsächlichen Revolutionäre vor ihm zu unbedingter Disziplin. Kein Tropfen Blut sollte vergossen werden. Einen Tag später, am Morgen des 9. November 1918, bildete sich in einer großen Versammlung in der Central-Halle am Kaiser-Wilhelm-Platz, dem heutigen Kesselbrink, der Bielefelder „Volksrat".

Unter der Ägide von Carl Severing zeichnete sich dieser in der Folgezeit durch eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der bestehenden Stadtverwaltung aus. Disziplin, Gewaltfreiheit und das Ablehnen jeglicher Form von Anarchie waren charakteristisch für die Bielefelder Novemberrevolution von 1918.

Die Faszination, die von vielen der alten Eliten des gerade untergegangenen Kaiserreichs ausging, seien es das Tragen von Adels- und akademischen Titeln, das Bekleiden von hohen Offiziersrängen, das Führen eines großbürgerlichen Lebensstils und der Respekt, den diese Menschen ausstrahlten, entwickelte sich zur schwersten Hypothek der Weimarer Republik in den 1920er-Jahren.

Kein Abschied von alten Eliten

Viele Sozialdemokraten (und einige wenige Sozialdemokratinnen), die doch nun einen Großteil der politischen Macht in Händen hielten, konnten der Zusammenarbeit mit den Vertretern dieser Eliten nicht widerstehen.

Anstatt sie aus ihren Ämtern zu entfernen, beließen die Sozialdemokraten sie dort, möglicherweise in der Hoffnung, dass etwas Glanz der alten Welt doch auf sie fallen möge. Auch in Bielefeld war das zu beobachten. Und Carl Severing erwies sich als einer ihrer typischsten Vertreter.

Die SPD tat alles, um eventuelle Einflüsse der Kommunisten zurückzudrängen. Im Verein mit den alten Kräften und deren überaus schlagkräftigen Freikorps, zum größten Teil aus ehemaligen Frontsoldaten bestehend, wurden kommunistische Aufstände mit unfassbarer Gewalt niedergeschlagen. So etwa der Berliner Spartakusaufstand im Januar 1919 und die Münchner Räterepublik im April 1919.

Tote und Verletzte bei Unruhen in Bielefeld 1919

Sogar in Bielefeld gab es im Juni dieses Jahres eine Volkserhebung, die sich an den hohen Lebensmittelpreisen entzündete. Auch hier mahnte Carl Severing erneut zur Ruhe, zum Maßhalten und zur Disziplin. Dieses Mal hatte er jedoch kein Glück. Dafür sprachen nun die Waffen.

Polizei, Sicherheitswehr und das zu Hilfe gerufene Freikorps Grabke sorgte mit seinen 500 Soldaten für Friedhofsruhe in Bielefeld. Unter den Demonstrierenden gab es zwei Tote und 16 Verletzte.

Im Deutschen Reich und damit auch in Bielefeld arbeiteten in den folgenden Jahren jene Kräfte, mit denen die Sozialdemokratie in der Revolutionszeit einen unheiligen Bund eingegangen war, teils im Stillen, häufiger aber auch ganz öffentlich, auf eine Revision der bestehenden Verhältnisse hin. Adel, Großbürgertum, Militär und zahllose Vertreter der öffentlichen Verwaltungen lehnten die Weimarer Republik rundheraus ab, machten sie verächtlich, wo und wie es eben ging.

Alter Kaiser, neuer Führer

Die meisten träumten von einer Rückkehr des Kaisers aus seinem Exil, viele ergingen sich aber auch in idealisierten Vorstellungen von einer nationalen Revolution, in der kein Lametta-behangener, alter Monarch, sondern ein junger „Führer" das Regiment übernahm. Dabei schauten viele bewundernd auf die Erfolge des „Duce" Benito Mussolini und seiner faschistischen Bewegung in Italien. All das endete im Chaos und Fiasko des Zweiten Weltkriegs.

Im Vergleich zur Weimarer Republik steht die Bundesrepublik Deutschland seit vielen Jahrzehnten wie ein demokratischer Fels in der Brandung. Offenbar sind die politischen Weichen nach 1945 richtig gestellt worden.

Auch wenn antidemokratische Kräfte in Form von kleineren oder größeren Parteien oder sonstiger Vereinigungen in gewisser Regelmäßigkeit lautstark Proteste anmeldeten und sogar eine nicht geringe Anhängerschaft vorweisen konnten, so waren dies doch bisher eher anachronistische Randphänomene, deren Halbwertzeit in aller Regel gering war. Sehr viel wird sich daran höchstwahrscheinlich auch in Zukunft nicht ändern.