Bielefeld

Vor 75 Jahren wurden die ersten Juden aus Bielefeld deportiert

Für die meisten war dies der sichere Tod, in dem ersten Transport waren ungewöhnlich viele Kinder

Drangvolle Enge: Der Zug, der aus Münster kam und nach Riga fuhr, war schon voll. Nur zweimal auf der gesamten Strecke bekamen die Reisenden Wasser. Sie durften den Zug nicht verlassen. Von den 420 Deportierten überlebten 48. | © Stadtarchiv Bielefeld

09.12.2016 | 10.12.2016, 10:24
Deportiert: Kläre Löwenstein (v. l.), ihr Bruder Helmut und Inge Bachmann. Nur Helmut überlebte. - © Stadtarchiv Bielefeld
Deportiert: Kläre Löwenstein (v. l.), ihr Bruder Helmut und Inge Bachmann. Nur Helmut überlebte. | © Stadtarchiv Bielefeld

Bielefeld. Am 13. Dezember 1941 - am Dienstag vor 75 Jahren - verließ gegen 15 Uhr ein Personenzug der 3. Klasse der Deutschen Reichsbahn den Bielefelder Bahnhof. Die Ankunfts- und Abfahrtzeit war im regulären Fahrplan nicht vermerkt. Überdies waren die Türen der einzelnen Waggons von außen verschlossen worden. Im Zug saßen Männer, Frauen und Kinder aus dem Großraum Münster und Ostwestfalen-Lippe, Juden, die aus ihrer Heimat nach Riga verschleppt werden sollten.

An diesem Tag war die erste von insgesamt acht Deportationen, die für die meisten Verschleppten den sicheren Tod bedeutete. Die Deportation nach Riga gehörte bereits zur zweiten Welle der so genannten Teil-Deportationen, bei denen nach einem Führerbefehl 50.000 Juden aus dem "Altreich", einschließlich des 1938 annektierten Österreichs und der Protektorate Böhmen und Mähren "nach Osten" verschleppt werden sollten, die nicht älter als 60 Jahre sein durften.

Bereits 1938 wurden die Reisepässe von Juden mit einem aufgedruckten "J" gekennzeichnet, seit 1939 mussten sie als zweiten Vornamen "Sara" beziehungsweise "Israel" führen. Im Herbst 1939 wurde auch in Bielefeld den jüdischen Einwohnern das Recht auf eigenem Wohnraum genommen und die Menschen in so genannten Judenhäusern zusammengepfercht.

Menschen waren rechtlos

Als am 24. Oktober 1941 im Zuge der zweiten Welle der SS-Obergruppenführer Kurt Daluege die Rigadeportation anordnete, lief jüdisches Leben in Deutschland und somit auch in Bielefeld längst jenseits jeglicher bürgerlicher Vorstellungen ab: Die Menschen waren rechtlos, in ihrer Existenz gefährdet und lebten in einem permanenten Ausnahmezustand.

Zu ihnen gehörte auch der in Werther geborene und aufgewachsene Artur Sachs, der 1941 mit seiner Frau Berta in einem "Judenhaus" an der Lützowstraße, der heutigen Karl-Eilers-Straße, wohnte. Beide haben die Shoa überlebt. Sie wurden zum Restaurant Kyffhäuser am Kesselbrink gebracht, in dem bis zur Verschleppung "über 400 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Bielefeld und Umgebung" untergebracht waren.

Im großen Saal war das Mobiliar an den Wänden und auf einer Galerie aufgestapelt und die Fläche mit Stroh ausgelegt worden, auf der die Menschen drei Tage ausharren mussten und von Frauen der Bielefelder Synagogengemeinde mit Lebensmitteln und Getränken versorgt wurden. Die Deportierten kamen aus Bielefeld, Herford, Bünde, Vlotho und Gütersloh, aus Lemgo, Detmold und Brakel, aus Paderborn, Fürstenau, Lügde und Bad Lippspringe, aus Minden, Hausberge und vielen anderen Städten und Gemeinden Ostwestfalen-Lippes. Am Güterbahnhof blieben die Ereignisse des 13. Dezember nicht unbemerkt. Wohnhäuser grenzten an den Platz, auf dem die Menschen auf ihr mitgebrachtes Gepäck wachten und auf den Zug warteten.

Türen wurden verplombt

Als der Zug am frühen Nachmittag aus Münster kommend in Bielefeld eintraf, herrschten auf dem schmalen Bahnsteig katastrophale Verhältnisse. An den Fenstern vieler Waggons standen Juden, die in Münster den Zug besteigen mussten. Die Bielefelder Deportationsopfer mussten mit ihrem Gepäck an den Waggons vorbeilaufen, um die ihnen zugeteilten Abteile zu erreichen. Als alle eingestiegen waren, wurden die Türen des Zuges abgeschlossen und verplombt. In seinem Abteil erhielt Artur Sachs eine weiße Armbinde, die ihn berechtigte an bestimmten Bahnhöfen für die Mitreisenden Wasser zu holen. Das war auf der Strecke von Bielefeld nach Riga nur zwei Mal möglich: in Berlin und in Ostpreußen. Alle anderen durften den Zug nicht verlassen.

Als der Zug in Skirotova, einem Vorort von Riga, eintraf, war den Verschleppten klar, dass ihr Leben nichts mehr zählte. Artur Sachs berichtete: "Im selben Moment, als wir den Zug verließen, begann für uns die richtige KZ-Zeit." Von den 420 Deportierten des Gestapobezirks Bielefeld kehrten nach dem Kriegsende nur 48 als Überlebende zurück. Berta und Artur Sachs haben die "Hölle auf Erden", wie er es einmal nannte, überlebt. Sie starb 1989 im Alter von 90 Jahren in Bielefeld, ihr Mann Artur mit 83 Jahren 1997 in Düsseldorf.