Medikamententests Bethel: „Alles muss transparent gemacht werden“

Heiner Berthold, Chefarzt am Bethel-Krankenhaus Mara, zu den Medikamententests in den 50er- und 60er-Jahren an Kliniken und Einrichtungen für Behinderte. Herr Professor Berthold, wie haben Sie sich gefühlt, als Sie von den Medikamententests in Bethel in den 50er- und 60er-Jahren in der Doktorarbeit der Pharmazeutin Sylvia Wagner gelesen haben?Heiner Berthold: Da ich mich schon viele Jahre mit Arzneimittelprüfungen befasse, auch in meiner früheren Funktion als Geschäftsführer der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, überraschen mich Probleme bei Arzneimitteltests nicht. Jetzt scheint auch Bethel betroffen zu sein. Meine erste Reaktion war, dass alles transparent gemacht werden muss. Ich begrüße es, wenn sich eine pharmazeutische Doktorandin eines solchen Themas annimmt und in Bereichen aktiv wird, in denen wir medizinhistorisch noch Forschungsbedarf haben. Wie liefen in den 50er und 60er Jahren die Medikamententests ab?Berthold: Weitgehend ungeordnet. Wir haben ja erst Anfang der 60er Jahre in Deutschland ein Arzneimittelgesetz bekommen, dessen spätere Versionen eine erste Grundlage für Medikamententests enthielten. Nach den Nürnberger Prozessen zur Nazi-Diktatur wurde der Nürnberger Kodex entwickelt, der später zur ersten Deklaration von Helsinki 1964 des Weltärztebundes führte. Die Deklaration von Helsinki ist das erste internationale Dokument, das die Forschung unter ethische Aspekte stellt und Grundsätze der Forschung am Menschen regelt. Das Arzneimittelgesetz und die Deklaration von Helsinki gab es in den 50er Jahren noch nicht. Die Forschung hat sich damals überwiegend am wissenschaftlichen und ethischen Verständnis des einzelnen Mediziners orientiert. Wie laufen Medikamententests heute ab?Berthold: Medikamententests sind heute extrem stark reguliert. Arzneimittel werden von den Herstellern mit dem Ziel einer behördlichen Zulassung entwickelt. Es gibt in fast allen Ländern der Welt Arzneimittelzulassungsbehörden. Die größte und bekannteste ist die FDA in den USA. Und es gibt in Europa in jedem Land eine Zulassungsbehörde sowie eine europäische Arzneimittelagentur, die EMA in London. Diese haben detaillierte Regularien für Arzneimittelstudien entwickelt, deren Einhaltung auch überprüft wird. Eines der wichtigsten Elemente ist der Prüfplan für eine Studie. Dieser Plan muss der Behörde zur Genehmigung vorgelegt werden und wird eingehend diskutiert. Darin wird jedes Detail der Arzneimittelstudie beschrieben: Von der chemischen Synthese, von den präklinischen Studien, von Tierversuchen bis zu ersten Verträglichkeitsstudien am Menschen. Ein Teil des Prüfplans ist die Patientenaufklärung. Es gibt auch Studien an gesunden Probanden, die auch behördlich genehmigt werden müssen. Eine vom Teilnehmer zu unterzeichnende Aufklärung und Einverständniserklärung muss den Behörden vorgelegt werden. Und wie ist es mit Häftlingen, Behinderten und Kindern?Berthold: An abhängigen Menschen, beispielsweise Insassen von Gefängnissen, ist keine Forschung zulässig. Ein wichtiges Thema ist die Forschung an nicht oder nur eingeschränkt einwilligungsfähigen Menschen. Dazu gehören auch Kinder. Weiterhin können dazu psychiatrisch erkrankte Menschen und Menschen mit kognitiven Einschränkungen gehören, also beispielsweise Demenzkranke. Diese Patientengruppen haben Erkrankungen, für die Arzneimittelforschung nötig ist. Es ist eine große Herausforderung, die Rahmenbedingungen und die ethischen Aspekte für Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen zu klären und zu regeln. Wer trägt die Verantwortung bei den Medikamententests?Berthold: Die Verantwortung trägt der Prüfarzt. Als Leiter der klinischen Prüfung trägt er schlussendlich die Gesamtverantwortung. Der Prüfarzt ist meist Auftragnehmer von einem Sponsor, der die Kosten für die Arzneimittelstudie übernimmt und das zu prüfende Präparat herstellt. Der Leiter der klinischen Prüfung ist der Verantwortliche in dem ganzen System. Wo lagen damals die besonderen Probleme bei Tests mit Heimkindern?Berthold: Das waren abhängige Menschen über die wir nicht viel wissen. Möglicherweise hatten sie Verhaltensauffälligkeiten, vielleicht waren sie aber auch gesund. Wir wissen nicht genau, aus welchen Gründen sie in den Heimen waren. Anders in Bethel: Hier war meist die Epilepsie ausschlaggebend. Aber dadurch, dass sie Kinder waren, waren sie nicht einwilligungsfähig. Heute müssen Eltern oder die Erziehungsberechtigten ihr Einverständnis geben und es muss auch das Einverständnis eines Kindes eingeholt werden. Das hängt vom Alter und von der intellektuellen Reife des Kindes ab. Wenn ein Kind versteht, um was es geht, darf es auch mitentscheiden. Zudem muss Forschung an Kindern alternativlos sein. Ist Geld von den Herstellern an die Ärzte geflossen?Berthold: Ich weiß nicht, ob damals Geld an die Ärzte geflossen ist, wir müssen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung abwarten. Die Finanzfrage ist heutzutage geregelt. Es gibt einen freiwilligen Transparenz-Kodex der forschenden pharmazeutischen Industrie, wonach die Honorierung von solchen Studien angemessen sein muss. Das ist ein weiter Begriff, aber im Grunde genommen darf Geld nur für den anfallenden Arbeitsaufwand und für die Serviceleistung bezahlt werden. In der Realität wissen wir, dass es manchmal anders aussieht. Können Sie das konkretisieren?Berthold: Ich denke, dass manchmal auch unangemessen hohe Geldsummen bezahlt werden. Ein großer Pharma-Konzern wendet sich heute an ein Prüfinstitut, das Kliniken und Prüfzentren rekrutiert. Damals ist Forschung noch mehr durch individuelle Initiative betrieben worden. Ärzte sind von sich aus forschend Fragen nachgegangen und haben bei Herstellern angefragt ob sie ein Medikament testen dürfen. Die 17.000 Tabletten Encephabol, die ein Oberarzt in Bethel wohl von der Firma Merck bekam, sehen eher danach aus, dass kein konkreter Prüfplan vorhanden war. Aber das ist derzeit Spekulation. Welche Aufgaben hat eine Ethikkommission bei Medikamententests?Berthold: Eine solche Ethikkommission nimmt vor allem die Interessen des Studienteilnehmers, des Probanden oder des Patienten wahr, sie schützt aber auch den prüfenden Arzt. Sie schaut sich die Prüfvorhaben unter dem Aspekt an, ob das Risiko vertretbar und ein möglicher Nutzen für die Allgemeinheit und den Patienten vorhanden ist. Es gibt die nicht-eigennützige Forschung, an der jemand teilnimmt, der persönlich keinen Nutzen daraus ziehen kann. Diese ist eigentlich bisher nur für den pädiatrischen Bereich geregelt. Meistens wird ein neues Medikament gegen eine etablierte Therapie geprüft, manchmal auch gegen ein Placebo. Der Studienteilnehmer hat dann die Möglichkeit, eine bessere Behandlung zu bekommen. Die Ethikkommission schaut auch darauf, ob es bei Behandlungen schon wirksame Therapien gibt. Ein Beispiel ist Bluthochdruck: Heutzutage kann man kein Blutdruckmittel in einer Placebo-Studie entwickeln, denn dann würde die Kontrollgruppe nicht behandelt. Heute muss die Kontrollgruppe die bestmögliche verfügbare Therapie bekommen und die Prüfgruppe erhält das neue Medikament zusätzlich. Es gehört auch zu den ethischen Überlegungen, zu hinterfragen, was für den Patienten die Alternative ist. Die Basisalternative ist grundsätzlich die bestmögliche verfügbare Behandlung. Wie läuft es in der Demenz-Forschung?Berthold: Diese Frage ist wichtig, um die damaligen Ereignisse einordnen zu können. Bei den Studien an Heimkindern lesen wir in dem Kapitel von Sylvia Wagner, dass es vor allem auch um Psychopharmaka ging. Die heutige Psychopharmakologie, vor allem bei der Behandlung von schizophrenen Patienten, von Patienten mit Psychosen und von aggressiven, schwer verhaltensauffälligen Patienten, hat von der Entwicklung der Psychopharmaka profitiert. Die Psychiatrie hat sich mit der Entwicklung von Neuroleptika verändert. Diese Menschen sind früher in Heime und Kliniken gesperrt und teilweise in Zwangsjacken gesteckt worden. Heute können sie ein ganz anderes Leben führen. Ein großer Teil dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse ist unter Rahmenbedingungen gewonnen worden, die wir heute nicht mehr akzeptieren können. Aber viele Patienten haben einen Benefit davon. Etwa ein Drittel der Menschen, die über 90 sind, haben heute eine dementielle Erkrankung. Es gibt teilweise wirksame Arzneimittel, aber die Forschung muss weitergehen. Diese dementen Menschen sind per Definition nicht einwilligungsfähig und trotzdem müssen Möglichkeiten gefunden werden, zu forschen. Auch auf der gesetzgeberischen Ebene und unter Fachleuten wird derzeit intensiv diskutiert, in welchem Rahmen man bei Demenzpatienten forschen darf.

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