Bielefeld

Bielefeld in Schutt und Asche

Die letzten Kriegstage (1): Die Sirenen geben das Signal "Feindalarm", die Amerikaner haben die Stadt erreicht

Zerstört und menschenleer: Seit dem größten Bombenangriff auf Bielefeld am 30. September 1944 lag die Innenstadt weitgehend in Trümmern. Insgesamt starben bei Angriffen auf Bielefeld 1.349 Menschen. | © Fotos: Stadtarchiv Bielefeld

31.03.2015 | 06.05.2015, 11:31
Jugendliche Flakhelfer: Auch sie sollten die vorrückenden Amerikaner bekämpfen.
Jugendliche Flakhelfer: Auch sie sollten die vorrückenden Amerikaner bekämpfen.

Bielefeld. Es war fast ein Witz. Zur Verteidigung Bielefelds und der umliegenden Vororte standen Ende März 1945 lediglich 3.500 Mann zur Verfügung. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen: kaum kampferprobte Truppen, dazu die schon etwas älteren Herren des "Volkssturms", zahlreiche Genesende, deren Kriegsverletzungen noch nicht einmal richtig ausgeheilt waren, und Kindersoldaten, die man aus den Reihen der Hitlerjugend rekrutiert hatte.

Sie verteilten sich auf ein riesiges Gebiet, das nach Westen bis Steinhagen reichte, im Norden bis nach Jöllenbeck und im Osten bis zur Reichsautobahn. Ihnen näherte sich eine gewaltige Streitmacht.

Vom Süden her, auf der Autobahn und links und rechts von ihr, stießen zwei Infanterie-Divisionen der 9. US-Army vor, begleitet von deren 5. Panzerdivison, die den unheilverkündenden Namen "Hell On Wheels" (Hölle auf Rädern) trug. Es war der stärkste Panzerverband der Amerikaner an der gesamten Westfront. Insgesamt 250.000 US-Soldaten gehörten zu diesem Aufgebot.

Panzerspitzen der Gegner erreichten Bielefeld

In Bielefeld war am Tag zuvor, dem 30. März 1945, aus Berlin angeblich ein "Führerbefehl" eingetroffen: Die Stadt und das Gebiet des damaligen Regierungsbezirks Minden sollten "bis zum letzten Mann" verteidigt werden.

Am 31. März 1945 heulten in Bielefeld gegen 20 Uhr die Sirenen das Signal "Feindalarm". Nun wussten die noch in der Stadt verbliebenen Einwohner, die nicht vor den ständigen Bombardements der Alliierten aufs Land geflohen oder evakuiert worden waren, dass die Panzerspitzen der Gegner die Umgebung Bielefelds erreicht hatten.

Information
Fünf Tage in vier Folgen

Der Autor der vierteiligen Serie über die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges in Bielefeld ist der promovierte Historiker Hans-Jörg Kühne (55). Das Ende des Krieges jährt sich in diesen Tagen zum 70. Mal. Kühne interviewte Zeitzeugen und griff auf die bekannten Werke von Bielefelder Historikern zu wie der Professoren Reinhard Vogelsang und Hans Ulrich Wehler. Außerdem fand er im Nachlass von Friedrich Karl Kühlwein (1892-1972), der am Ende des Krieges Generalleutnant war, wertvolle Hinweise. Kühne schreibt wissenschaftliche Werke genauso wie Sachbücher und Kriminalromane. Außerdem ist er professioneller Musiker: Er spielt Saxofon.


Für die "Trümmertruppe", so die Bezeichnung eines fronterfahrenen Wehrmachtsoffiziers beim Anblick des Bielefelder Verteidigungskontingents, wurde es nun ernst. Vor allem die Angehörigen des Volkssturms gehorchten nur noch widerwillig ihren Vorgesetzten.

Erinnerungen von Zeitzeugen

Das damals junge Mädchen Annemarie Kögel schilderte einige Jahre nach Kriegsende ihre Gedanken, die sie damals bei deren Anblick hatte: "Das Radio meldete ein ständiges Vorrücken der Amerikaner. Wenn die deutsche Wehrmacht zurückging, was sollten diese alten Männer noch verteidigen? Wir haben zu vier Mann ein Gewehr, sagte einer dieser Leute stur und ohne Hoffnung, nahm sein Gepäck und ging."

Einen Tag zuvor musste auch der Bielefelder Hitlerjunge Friedhelm Kranzmann, ausgerüstet mit einem Kleinkalibergewehr, das an Stelle eines Schultergurtes nur einen Bindfaden hatte, zusammen mit seinem Zug im Teutoburger Wald Stellung beziehen. Er kann sich noch heute an den Blick eines altgedienten Offiziers erinnern, in dem er eine Spur von Mitleid zu erkennen glaubte.

Nachts hätten sie dann Wache geschoben, "die Hosen gestrichen voll", wie es hieß, während sie glaubten, in der Ferne bereits Geschützdonner zu hören. Dann kam am Morgen des 31. März ein Befehl, der die Räumung der Stellung verfügte. In der Innenstadt Bielefelds seien Sicherungsaufgaben zu übernehmen. Irgendjemand war in letzter Sekunde zur Vernunft gekommen und hatte die Kindersoldaten zurück beordert. Diese rückten erleichtert ab, wenn sie auch lauthals verkündeten, dass sie es den "Amis" schon gezeigt hätten.

Stilllegung aller Betriebe

Am späten Abend erging an alle Rüstungsbetriebe der Stadt ein Rundruf: "Lähmung" sei befohlen, im Einvernehmen mit dem NSDAP-Kreisleiter Reineking. Dies bedeutete die Stilllegung aller Betriebe.

Unklar blieb, wie mit den "Fremdarbeitern", also den vielen Tausend ausländischen Arbeitskräften in Bielefeld, zu verfahren sei. Erst hieß es, sie seien aus der Stadt zu bringen, dann lautete jedoch der Befehl, sie in ihren Lagern zu belassen. Viele dieser Zwangsarbeiter führten in ihren Taschen bereits Flugblätter mit sich, die von alliierten Bombern abgeworfen worden waren und in mehreren Sprachen über das baldige Ende des Deutschen Reiches informierten.

Sie empfahlen den Zwangsarbeitern, aufs Land zu flüchten und Informationen zu sammeln, die für die alliierten Streitkräfte wichtig sein könnten. Denjenigen, die in der Stadt bleiben mussten, legte man nahe, passiven Widerstand zu leisten und sich mit deutschen Arbeitern zusammenzutun, die als Gegner des Nationalsozialismus bekannt seien.