«Welkom op de Zeeboden» steht auf einer Skulptur an einer Straße in der Provinz Flevoland am östlichen Ufer des IJsselmeeres. Flevoland liegt im Durchschnitt fünf Meter unter dem Meeresspiegel - und auf ehemaligem Meeresboden. Früher war hier nichts als Wasser, aus dem zwei Inseln ragten: Urk und Schokland.
Die Kirche von Urk diente den Amsterdamer Schiffen als Navigationshilfe. Schokland wiederum hat eine ganz eigene Geschichte. Und die lässt man sich am besten von Nico de Boer erzählen. Dabei erfährt man auch, wie das IJsselmeer entstand.
Der 85-Jährige führt Besucher durch das Museum Schokland, in dem die Zeugnisse eines jahrtausendelangen Kampfes gegen das Wasser ausgestellt sind. Ein Kampf, der 1859 schon verloren schien, denn damals mussten alle Bewohner die fünf Kilometer lange Insel verlassen.
«Das Wasser hat immer mehr von Schokland gefressen», erzählt de Boer. Genau genommen waren es mehrere Siedlungshügel, sogenannte Warften, die durch einen schmalen Pfad, gerade mal einen halben Meter breit, miteinander verbunden waren. Begegneten sich auf diesem Pfad zwei Menschen, bedurfte es einer besonderen Technik, um den Weg fortsetzen zu können. Man umfasste sich an der Hüfte und drehte sich in einer schnellen Bewegung um den anderen herum – der «Schokker-Tanz», Nico de Boer beherrscht ihn noch.
Kanone als Kommunikationsmittel
Im Schatten der Kirche neben dem Museum steht eine Kanone, keine Waffe, sondern ein Kommunikationsmittel. Ein Schuss bedeutete: Das Wasser steigt. Zwei Schuss: Es wird Zeit, seine Siebensachen zusammenzusammeln. Drei Schuss: Rette sich, wer kann - aufs nächste Dach.
Bei den großen Sturmfluten in den Jahren 1825 und 1916 überflutete das Wasser die ganze Insel und klopfte an die Tür der Kirche, die auf dem höchsten Punkt steht. «Jetzt ist es vorbei», hieß es danach, «jetzt schließen wir die Zuiderzee», gibt de Boer die Stimmung von damals wider.
1927 begann der Bau des Abschlussdeiches. 1932 wurde die letzte Lücke geschlossen, und aus der Zuiderzee, einer Meeresbucht, wurde das IJsselmeer, ein Binnengewässer. Teile dieses Binnengewässers wurden trockengelegt, «das, was die Holländer schon immer gemacht haben, unsere Spezialität.» Neues Land entstand.
Wer an einer Führung mit Nico de Boer teilnimmt, darf sich nicht wundern, wenn er urplötzlich eine Statistenrolle zugewiesen bekommt. Zum Beispiel dann, wenn der Gästeführer vermitteln will, wie Bauern für dieses neue Land angeworben wurden. Dann inszeniert er ein kleines historisches Schauspiel, bei dem Besucher zu diesen Bauern werden, die einst Pionierarbeit leisteten.
Das größte Landgewinnungsprojekt der Welt
Das, was hier geschah, ist bis heute das größte Landgewinnungsprojekt der Welt. Schokland liegt nun nicht mehr im Wasser, sondern mitten in einer Polderlandschaft, genauer: auf dem nördlichsten von drei neuen Poldern. Zusammen bilden sie seit 1986 die zwölfte und jüngste Provinz der Niederlande: Flevoland. Und Schokland wurde 1995 zum ersten Weltkulturerbe in den Niederlanden - ein Sinnbild für den Kampf gegen das Wasser.
Die beiden anderen Polder sind zusammengewachsen und bilden heute eine der größten künstlichen Inseln der Welt. In diesem Flevopolder liegen die Oostvaardersplassen, ein rund 7.500 Hektar großes Naturschutzgebiet. Die wohl bequemste Möglichkeit, mehr über dieses Gebiet zu erfahren, ist eine Runde mit dem E-Mobil ab dem Besucherzentrum Oostvaardersplassen.
Geert van Rijbroek, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter, gehört zu denen, die dieses E-Mobil lenken dürfen. Die Wege führen zum Teil durch über zwei Meter hohes Schilf. Unterwegs muss van Rijbroek ein paar Vogelfreunde mit geschultertem Spektiv umkurven. Denn natürlich wollen alle den Seeadler sehen, ein majestätisches Tier mit einer Spannweite von bis zu 2,50 Meter. «Man nennt ihn auch die fliegende Tür», sagt van Rijbroek.
Und doch soll die Natur viel selbst regeln
Dazu gesellen sich unzählige andere Vogelarten, die Rohrdommel zum Beispiel, die man kaum zu Gesicht bekommt, weil sie dank ihres braun gemusterten Gefieders in dem schilfreichen Gebiet bestens getarnt ist. Für die Graugans wurden die Oostvaardersplassen sogar zu einem der wichtigsten Mausergebiete in Europa.
Geert van Rijbroek führt nicht nur Touristen durch dieses Gebiet, das zum Nationalpark Nieuw Land gehört, sondern achtet auch darauf, dass die Rothirsche und Kormorane «nicht alles platt machen». Einerseits soll hier die Natur möglichst viel selbst regeln, andererseits kommt man um menschliche Intervention nicht ganz herum.
Dass in strengen Wintern auch Tiere verhungerten, rief vor Jahren die Tierschützer auf den Plan. Aktuell ist die Zahl der größeren Tiere, also der Rothirsche, Heckrinder und Konik-Pferde, die ein Verbuschen der Landschaft verhindern sollen, auf 1.100 begrenzt. So will man gewährleisten, dass alle Tiere genügend Nahrung haben.
Die jüngste Stadt der Niederlande
Die Stadt Almere grenzt unmittelbar an dieses Feuchtgebiet - und der Kontrast könnte kaum größer sein. In Almere muss man sich alle Bilder von schmucken niederländischen Städten aus dem Kopf schlagen, mit Goldenem Zeitalter keine Spur.
In dieser 230.000-Einwohner-Stadt ist fast nichts alt. Almere wurde 1975 auf Polderboden gegründet und ist die jüngste Stadt der Niederlande. Keine Grachtengemütlichkeit, kein einziges historisches Bauwerk, dafür ganz viel moderne Architektur.
Im Zentrum kann man sich auf einer Fläche von gerade mal einem Quadratkilometer sattsehen an den originellen Bauten, die eine Handvoll renommierter Architekten, unter ihnen Rem Koolhaas, geschaffen hat. Einen guten Eindruck vom Rest der Stadt verschafft eine Bootstour, vorbei an Haubentauchern, Blesshühnern und Nilgänsen, vorbei auch an privilegierten Wohnlagen.
«Almere ist eine Wasserstadt», sagt Skipper René Toes, «50 Prozent der Stadt sind Wasser» - ganz ohne ist für Niederländer auch nicht schön. Was viele Einheimische wie Touristen außerdem zu schätzen wissen: Nach Amsterdam sind es mit dem Zug nur 20 Minuten. Auch in der Hauptstadt wurde Land erschaffen, aber das ist eine andere Geschichte.
Links, Tipps, Praktisches:
Anreise: Flevoland liegt östlich von Amsterdam und ist mit dem Auto von Hamburg in rund fünf Stunden und von Berlin in rund sieben Stunden erreichbar. Mit der Bahn bis Almere oder Lelystad, weitere Infos zu öffentlichen Verkehrsmitteln unter www.9292.nl.
Aktivitäten: Schaluppen für Bootstouren in Almere und von den Noorderplassen aus kann man mieten etwa bei Sloepverhuur Almere, ab 115 Euro für drei Stunden mit maximal acht Personen an Bord. Infos über das Welterbe Schokland hält unter anderem die Website des Museum Schokland bereit. Im einstigen Freiluftlabor Waterloopbos, heute ein Kulturdenkmal, erfährt man, wie die Niederländer ihre berühmten Wasserbauprojekte an maßstabsgetreuen Modellen ab 1951 testeten. Das Gebiet am Rande des Noordoostpolders lässt sich gut zu Fuß entdecken.
Weitere Informationen: visitflevoland.nl/de; visitalmere.com