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„Indika“ im Test: Das beste schräge Spiel des Jahres

Das von den aus Russland geflohenen Entwicklern von Odd Meter gebaute Spiel hält uns unsere Erwartungen an Videospiele genauso vor wie der russisch-orthodoxen Kirche ihre eigenen Widersprüche. Was man hier erlebt, ist im wahrsten Sinne des Wortes „teuflisch“.

Was wissen die Schwestern, was Indika nicht weiß? | © 11 bit studios

29.05.2024 | 29.05.2024, 19:37

Fünfmal. In Zahlen: 5 Mal! Fünfmal sind wir quälend langsam zum Brunnen gelaufen, haben immer wieder den Eimer aufgefüllt, ihn wieder zurück zu einem Fass getragen und dort ausgekippt. Zehn reale Minuten sind verstrichen, in denen wir uns mehrfach gefragt haben: Was zum Geier tun wir hier? „Nutzlose Arbeit ist die Basis spiritueller Weiterentwicklung“, stellt die Stimme in unserem Kopf furztrocken fest. Und weil der Akt selbst ja noch nicht sinnlos genug ist, wenn nebenan Rohrleitungen eine offensichtlich prächtig funktionierende Wasserversorgung illustrieren, kippt die Obernonne das volle Wasserfass kommentarlos aus und scheucht uns weg. That’s it? That’s the game? Willkommen bei „Indika“.

Die größtenteils verschneiten Level sind zwar farblich monoton, aber kein bisschen unansehnlich. - © 11 bit studios
Die größtenteils verschneiten Level sind zwar farblich monoton, aber kein bisschen unansehnlich. | © 11 bit studios

Ein Spiel wie dieses objektiv zu bewerten, ist gleichermaßen dankbar, wie es unmöglich ist. „Indika“ hat teilweise die Optik von „The Last of Us“ und ist in spielerischer Hinsicht trotzdem unspektakulär. Aber dann passiert wieder irgendetwas Abstruses, das uns in die Auseinandersetzung zwingt. Ständig reißt das Spiel Vorhänge auf, hinter denen Welten möglicher Sichtweisen auf die menschliche Existenz liegen. Kein einfaches Spiel also, aber die Fragen, die es behandelt, kann jeder verstehen.

Über dieses Videospiel zu schreiben, ist trotzdem schwierig. Weil man all die wirren Ereignisse am besten selbst erleben sollte. Denn „Indika“ fordert uns persönlich heraus. Hier gibt’s nicht immer Antworten, sondern nur das, was wir als Spieler daraus machen. Es wird Spieler geben, die nach der Brunnensequenz (oder währenddessen) schon nach der Rückgabe-Option im Store suchen. Aber wer ein bisschen zwischen den Zeilen lesen mag, ein Mindestmaß an Interesse für Religion mitbringt und kein Problem damit hat, von Gameplay-Mechaniken auch mal auf dem falschen Fuß erwischt zu werden, der wird nach dem Abspann noch lange an dieses Spiel denken.

Worum geht es in „Indika“?

Wenn der Teufel die Spielwelt zerreißt, kann sie nur eins retten: Beten! - © 11 bit studios
Wenn der Teufel die Spielwelt zerreißt, kann sie nur eins retten: Beten! | © 11 bit studios

Nonne „Indika“ hat ein Problem. Das heißt, sie hat mehrere. Der Alltag in einem Kloster im 19. Jahrhundert ist wie beschrieben: dröge bis zur Abstumpfung. Der russische Winter ist erbarmungslos, ihre Mitschwestern behandeln sie im besten Fall wie Luft. Nix mit christlicher Nächstenliebe also an diesem Gottesort. Das alles erfahren wir von der Stimme in Indikas Kopf, die ihr gegenwärtig größtes Problem darstellt: Denn sie gehört ganz offensichtlich dem Teufel.

Indika hadert nämlich schon länger mit den vielen Fragen an ihren Glauben, auf die sie keine Antworten findet. Und die Stimme in ihrem Kopf nutzt das, um immer mehr Zweifel zu säen: mal mit Häme (siehe Wassereimer-Schwachsinn), mal in direkten Wortgefechten, in denen sich gegenseitig der Mund verboten wird. Auf unserer Reise, die sich recht schnell als eine Art spiritueller Roadtrip in Begleitung des Häftlings Ilja entpuppt, muss sich Indika diesen Fragen immer häufiger stellen. Denn Ilja verkörpert alles, was sie im Stillen an ihrem Glauben nervt. Eine spannende Konstellation – den Streitereien zwischen den beiden haben wir gern gelauscht.

In kurzweiligen Minispielen erleben wir kurze Episoden aus Indikas vorklösterlicher Vergangenheit. - © 11 bit studios
In kurzweiligen Minispielen erleben wir kurze Episoden aus Indikas vorklösterlicher Vergangenheit. | © 11 bit studios

Das Surreale durchzieht auch das tatsächliche Gameplay. Denn dass wir gelegentlich beten müssen, um die plötzlich von Rissen durchzogene Spielwelt wieder in Ordnung zu bringen oder das gehässige Gerede über den Unsinn des Glaubens zu übertönen, folgt noch einer gewissen Logik. Doch dass Erinnerungssequenzen über Indikas Vergangenheit regelmäßig als Minispiele in Pixeloptik daherkommen, bricht mit der restlichen Hochglanzoptik des Spiels dann doch ganz schön krass. Rennspiel, Jump & Run-Einlagen – alles dabei. Warum? Because Game. Oder steckt doch mehr dahinter?

Weiteres Beispiel: Wir können überall Punkte sammeln. Fürs Anzünden von Kerzen oder beim Finden versteckter Gegenstände zum Beispiel. Dadurch schalten wir im wahrscheinlich merkwürdigsten aller Fähigkeitenbäume neue „Skills“ frei. Zum Beispiel Stufe 6: Trauer. Oder Level 4: Demut. Mit völlig beliebig wirkenden Multiplikatoren für, ganz recht, mehr Punkte. Obendrein meldet das Spiel hin und wieder im Ladebildschirm: „Verschwende nicht deine Zeit mit dem Sammeln von Punkten, es ist sinnlos.“ Trotzdem kriegen wir die jahrelange Konditionierung kaum unterdrückt. Denn die Punkteanzeige ist natürlich trotzdem jederzeit gut sichtbar eingeblendet. Damn you, game!

Die Message ist Kant: Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Und es ist der beste Tipp, den man Spielerinnen und Spielern für ihre Reise mit Indika geben kann.

Fazit

Kommt ne Nonne in eine Fischfabrik… - © 11 bit studios
Kommt ne Nonne in eine Fischfabrik… | © 11 bit studios

Ich mag Spiele wie „Indika“, die mir innerhalb der ersten halben Spielstunde meine eigenen Erwartungen um die Ohren hauen. Es macht aus religiösen Widersprüchen angemessen bekloppte Gameplay-Mechaniken. Wer seinen Gott liebt, der schöpft Brunnenwasser. Und investiert Punkte in Pflichtgefühl und Demut. Ja nee, is klar.

Man kann „Indika“ also durchaus als Abrechnung mit Religion, als Anklage auch an die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche verstehen, die im völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine voll auf Staatslinie ist. Für christliche Kirchen historisch gesehen kein Einzelfall. In jedem Fall hebt es Spiele und unseren Konsum solcher „Unterhaltungsprodukte“ brachial auf gleich mehrere Meta-Ebenen: Was wir darin machen, hinterfragen wir ja in den seltensten Fällen. Es ist gelebte Praxis, kaum mehr als Muskelgedächtnis.

Diese Trägheit, die man auch wieder auf Religionen oder zumindest Kirche beziehen kann, macht uns das Spiel mehr als deutlich. Das funktioniert aber auch unterhalb der Meta-Ebene, weil Indika als Protagonistin so nahbar ist, mit all ihren Zweifeln und Fragen. Ihre Geschichte sollte man so unvorbelastet wie möglich erleben. Wer einen Vorgeschmack braucht, kann sich den in diesem YouTube-Video der ersten 20 Minuten holen – und danach entscheiden, ob der WTF-Moment am Ende eure Neugier so sehr kitzelt, wie er das bei uns getan hat.

„Indika“ ist für PC (Steam), Playstation und Xbox Series erhältlich, kostet 25 Euro und ist empfohlen ab 18 Jahren.