Wer in diesen Tagen zu sehr auf die großen Videospiel-Titel der nächsten Wochen schielt ("Dead Island 2", "Horizon Forbidden West: Burning Shores" oder "Star Wars Jedi: Survivor"), könnte einen Indie-Titel verpassen, der das Zeug hat, Spielerinnen und Spieler nachhaltig an den Bildschirm zu fesseln.
Vor wenigen Tagen nämlich haben der französische Spieleentwickler DigixArt und der Publisher Ravenscourt das narrative Abenteuerspiel "Road 96: Mile 0" auf den Markt gebracht, das die Vorgeschichte ihres von der Kritik gefeierten und mit zahlreichen Preisen überhäuften Spiels "Road 96" erzählt. Wer auch das noch nie gespielt hat, hat mit dem Prequel jetzt die beste Gelegenheit, von Anfang an in die ungewöhnliche Geschichte einzusteigen.
Worum geht's?
In "Road 96: Mile 0" spielen wir Ende der 1990er Jahre zwei Jugendliche aus gegensätzlichen gesellschaftlichen Schichten: Zoe ist die Tochter des Ölministers, der in der fiktiven Nation Petria für die Regierung von Präsident Tyrak arbeitet. Zoe (die Spieler von "Road 96" schon kennen) wohnt mit ihrem Vater im luxuriösen Teil der ohnehin etwas besser gestellten Gemeinde White Sands, denn dort wohnen die (Erfolg-)Reichen.
Kaito dagegen stammt aus der düsteren und verkommenen Stadt Colton City, einem Moloch, wo Umweltverschmutzung und Kriminalität herrschen. Vor zwei Jahren ist er mit seinen Eltern nach White Sands umgezogen, um eine berufliche Zukunft zu haben. Aber selbst in White Sands dürfen Arbeiter wie seine Eltern nur in den engen und stickigen Arbeiterwohnheimen leben. Die frei stehenden Häuser mit Gärten und Swimmingpools sind für sie nicht annähernd erschwinglich. Geht es in "Road 96: Mile 0" also um ein "arm gegen reich"? Nein, so schlicht ist dieses Abenteuerspiel nicht gestrickt.
Zoe und Kaito sind Freunde. Wenn wir das Spiel beginnen, ist der Grundstein dafür schon gelegt: Sie haben sich in einem Rohbau eine Art Versteck gebaut mit einem Sofa, auf dem sie sitzen und über die Skyline von White Sands schauen. Aus dem Kassettenrekorder links neben dem Sofa schallt Musik, und wenn wir aufstehen, können wir an einem Arcade-Automaten eine Runde "Super Skate" spielen. Es erinnert ein wenig an die anfängliche Stimmung aus "Life is Strange".
Das bleibt aber nicht so, denn eines Tages belauscht Zoe ein Gespräch von Kaito mit einem Fremden. Es geht um einen Code und einen Deal. Was verheimlicht Kaito ihr, obwohl sie doch Freunde sind und keine Geheimnisse voreinander haben? Abwechselnd schlüpfen wir im Singleplayer-Modus in Kaitos und Zoes Rolle und entdecken verstörende Wahrheiten über die Nation und sogar über Zoes Vater. Die Freundschaft der beiden Jugendlichen wird gehörig auf die Probe gestellt, denn beide haben ihre Meinungen, ihre Ansichten, und vor allem Zoe ist tief indoktriniert in die Erzählung der angeblich erfolgreichen und friedlichen Nation Petria.
Was uns gefallen hat
Die Optik der Spielreihe ist auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig, uns hat sie aber auch jetzt wieder begeistert: Wie auch im Vorgänger ist man sich bei "Mile 0" treu geblieben und hat den comicartigen Kunst-Stil weiterverfolgt. Es mag Spielerinnen und Spieler geben, die von den teilweise etwas klobig aussehenden Figuren abgeschreckt werden. Ihnen sei jedoch gesagt: Die Augen gewöhnen sich dran, und es ist halt auch irgendwie Kunst.
Und im Vordergrund steht auch bei "Mile 0" vor allem die Story. Anders als bei "Road 96" müssen wir uns hier nicht Informationen zusammenklauben, wer mit wem irgendwie verbunden ist. "Mile 0" ist kein mysteriöser Strang von Episoden, bei dem wir herausfinden müssen und wollen, wie alles zusammenhängt. Dennoch erzählt auch "Mile 0" eine ernste und emotionale Geschichte – vor allem Zoes, aber auch die ihrer Freundschaft zu Kaito.
Unsere Entscheidungen haben wie beim Vorgänger gewisse Auswirkungen. Sichtbar wird das in diesem Fall auf einem Balken links oben auf dem Bildschirm, der die Auswirkung auf die Persönlichkeit anzeigt: Wachsen Zoes Zweifel? Wird Kaito zum Revoluzzer? Deutlich werden unsere Entscheidungen auch bei fremden Personen, bei denen wir plötzlich nicht mehr das tun können, was wir eigentlich geplant hatten. Nicht immer waren wir uns allerdings sicher, dass unsere Entscheidungen tatsächlich so gewichtig sind und das Spiel anders ausgegangen wäre, wenn wir uns in manchen Situationen für einen anderen Weg entschieden hätten.
Das Spielerlebnis selbst fühlt sich anfangs etwas seicht an, wovon man sich aber nicht täuschen lassen sollte. Die bedrohliche Welt von Petria lernt auch Zoe nach und nach kennen. Natürlich lassen wir sie mal Plakate abreißen, wenn uns das Spiel die Gelegenheit dazu gibt. Tun wir das an gut einsehbaren Plätzen, klickt eine Überwachungskamera, und uns ist klar: Das könnte Folgen haben. Zoes Zweifel wachsen, dass dieses Land vielleicht doch nicht so ist, wie ihr Vater es immer darstellt. Also lassen wir sie jetzt auch mal Mülleimer durchsuchen, weil das Spiel uns die Möglichkeit bietet, und wir ja alles auskosten wollen. Prompt fragt eine Stimme hinter uns, ob Zoes Vater ihr nichts zu essen gebe. Wir sind einfach immer unter Beobachtung.
Zoe ist in Petria bekannt wie ein bunter Hund. Sie sollte weder Plakate abreißen, noch Mülleimer durchsuchen, noch Fragen stellen, und schon gar nicht mit diesem Kaito herumziehen. Das lässt sich unsere Zoe natürlich nicht sagen, und so erleben wir mit den beiden Teenagern kleine Abenteuer und auch ziemlich lustige Situationen. So brummt Zoes Vater ihr etwa einen ziemlichen unfähigen Bodyguard auf, den die beiden kurzerhand in der Garage einschließen. In einer anderen Szene können wir ein ziemlich verwöhntes Bürschchen beim Schaukeln anschubsen (den Ausgang kann man sich denken). "Mile 0" nimmt sich trotz der ernsten Story selbst nicht immer ganz ernst.
Geblieben aus dem Vorgänger ist außerdem der wahnsinnig gute Soundtrack. Er bietet in "Mile 0" nicht nur tolle Synthwave-Tracks, sondern hat auch mit "The Midnight" eine einigermaßen bekannte US-amerikanische Band aus dem Bereich an Bord (wir verlinken hier mal den Soundtrack bei Spotify). Hat die Musik im Ursprungsspiel vor allem viel zur Stimmung beigetragen, dient sie in "Mile 0" auch als Unterstützung für besondere Rhythmus-Action-Level. In diesen sind wir auf Rollschuhen oder Skateboards unterwegs, springen mal über Hindernisse oder ducken uns unter ihnen hinweg und müssen Punkte sammeln. Musikalisch macht das Laune, visuell sind diese Sonderlevel immer herausragend gestaltet, zum Beispiel auch mal als Side-Scroller, und spielerisch sind sie auch mitunter ganz schön knackig.
Was uns nicht gefallen hat
Das einfache Gameplay müsste eigentlich unter dem Kapitel "Was uns gefallen hat" stehen, denn es funktioniert schön intuitiv. Aber nicht immer ist es offenbar für die Konsole geeignet. So müssen wir zum Beispiel bei einem Mini-Spiel Nägel in Holzplanken hämmern, und hier ist die Koordination mit dem Controller wenig treffsicher. Auch die Steuerung im Menü ist nicht unbedingt eine Freude für Menschen mit Controllern.
Verwirrend ist außerdem, wie die deutschen Untertitel angezeigt werden. Wir haben davon mal einen Screenshot gemacht, den wir hier zeigen. Weil uns das auf Dauer ein bisschen genervt hat, haben wir sie schließlich ausgestellt. Man mag jetzt noch meckern, dass die Figuren ihre Münder nicht immer synchron zur Sprachausgabe bewegt haben, aber das ist dann schon eher Jammern auf hohem Niveau. Erstaunlicher finden wir da schon eher den Fehler mit der Geister-Schaukel: Vorher noch konnten wir das oben schon erwähnte Snob-Kind schaukeln – kommen wir später an der Schaukel vorbei, schaukelt die munter weiter. Es sitzt nur niemand darauf. Wir haben das zur Belustigung mal bei YouTube hochgeladen:
Ansonsten sind uns ein paar kleinere Fehler aufgefallen. Die oben beschriebenen Stimmen, wenn Zoe beim Containern erwischt wird, sind ebenfalls Geisterstimmen, denn drehen wir uns um, ist dort nie jemand zu sehen. Passt aber zur Geister-Schaukel. Manchmal wählen wir in Gesprächen noch Antworten aus, die wir sagen wollen, aber die andere Person verlässt schon das Geschehen. Liegt aber vielleicht auch daran, dass wir es kommunikativ nicht so drauf haben.
Fazit
Wer sich auf "Road 96: Mile 0" einlässt, wird ein kleines, atmosphärisches Wunderwerk von Spiel erleben. Rund fünf Spielstunden soll man damit verbringen. Wir waren deutlich länger unterwegs, weil wir an allen Ecken und Enden versucht haben, noch Rätsel zu lösen, versteckte Dinge wie Kassetten, Sticker und Spraydosen zu finden, mit den Bewohnern ins Gespräch zu kommen oder eines der diversen Mini-Spiele zu spielen. Das motivierende Storytelling ist einfach spitze, und wer ähnlich tief in der Geschichte drinsteckt wie wir, will da nicht so schnell wieder raus. Deshalb: Wir hören jetzt hier mal auf. Wir möchten zurück auf die Straße.
"Road 96: Mile 0" ist seit dem 4. April digital für die Plattformen PlayStation 4, PlayStation 5, Xbox One, Xbox Series X|S, PC und Nintendo Switch erhältlich und kostet rund 13 Euro. Das Spiel ist freigegeben ab 12 Jahren.