Körperaktivistin: "Es ist total in Ordnung, dick zu sein"

"Es ist anstrengend, in einem Körper zu leben, der nur mit negativ aufgeladenen Worten zu beschreiben ist." Das ist ein Satz aus Ihrem Buch "Body Politics". Ist es ein Kampf, dick zu sein?Melodie Michelberger: Ich weiß nicht, ob Kampf das richtige Wort ist. Aber ich kenne beide Seiten und als Mensch in einem dicken Körper wird man auf jeden Fall anders bewertet als in einem dünnen Körper. Warum ist das so?Dicke Körper werden diskriminiert, herabgewürdigt und stigmatisiert. Dick sein ist in der Diätkultur, in der wir leben, mit ganz vielen negativen Eigenschaften verbunden, zum Beispiel mit Faulheit, damit, dass man sich gehen lässt, sich nicht im Griff hat, dass man stinkt und einfach nicht genug an sich gearbeitet hat. Vielleicht ist das ein Kampf: Ständig beweisen zu müssen, dass man nichts falsch gemacht hat, dass es total in Ordnung ist, dick zu sein und es einfach unterschiedliche Körperformen gibt. Früher, als ich extrem dünn war, weil ich magersüchtig und sportsüchtig war, hat nicht eine Person vermutet, dass ich eigentlich sehr krank bin im Inneren. Weil Schlankheit eben das Ideal ist, nach dem wir in der Diätkultur alle streben sollten. Haben Sie den Eindruck, dass sich daran etwas ändert durch zum Beispiel Ihre Arbeit?Ich wünschte, ich könnte sagen, dass sich gerade etwas spürbar ändert. Ich bin jetzt 44 Jahre alt, habe mit 21 angefangen, in der Modeindustrie zu arbeiten und arbeite jetzt seit mehreren Jahren aktivistisch. Ich habe vor einiger Zeit in einem Interview gesagt, dass ich mir eine dicke Disneyprinzessin wünsche. Es ging mir darum, wie wir unsere Sehgewohnheiten ändern können. Daraufhin begann ein Hatestorm. Mir wurde vorgeworfen, ein schlechtes Vorbild zu sein, dass ich mich nicht im Griff hätte, dass Frauen einfach abnehmen müssen. Diese Erfahrung und ähnliche Kommentare unter jedem Online-Beitrag über mich, unter denen Hunderte ihre Vorurteile aufschreiben, zeigt mir, dass wir überhaupt nicht weiter sind. Von wem kommen diese Kommentare?Zu 90 Prozent von Männern, die mir alles Mögliche vorwerfen, zum Beispiel, dass ich mich gehen lasse, dass ich nicht schön anzugucken bin. Diese Männer sind so anmaßend zu denken, sie dürften mir das so sagen. Das ging wirklich hoch her. Bilder von mir wurden gepostet und extrem abwertend und gemein kommentiert. Das ist digitale Gewalt. Wie halten Sie das aus?Ich spreche mit meiner Therapeutin darüber, weil es nicht einfach ist, Hunderte solcher Nachrichten auf allen Kanälen zu bekommen. Mich motiviert das aber auch in meiner Arbeit als Aktivistin. Ich versuche diese Erfahrung für mich so umzusetzen, dass es eben noch viel Arbeit ist, diese Stigmatisierung dicker Körper als weniger wertvoll aufzulösen. Woher kommt dieser Hass wegen einer Körperform?Viele Menschen haben die Versprechen der Diätkultur verinnerlicht, die uns diesen Traum verkauft, dass wir mit drei Kilo weniger besser, schöner, erfolgreicher und ganz automatisch auch glücklicher wären. Wenn dann jemand wie ich kommt und sagt: Nö, ich fühle mich gut so wie ich bin und will meinen Körper nicht mehr hassen, bringt das viele Leute auf die Palme, denn das erschüttert ihre Glaubenssätze. Dass solche Kommentare oft von Männern kommen, hat glaube ich auch was mit der Darstellung von Frauen in Medien allgemein zu tun, mit dem vorherrschenden männlichen Blick. Männer haben oft das Gefühl, sie hätten das Recht, über den Körper einer Frau zu urteilen. Wann haben Sie die erste Diät gemacht?Mit zwölf, das war ein Obsttag. Ich dachte damals, dass Diäten so was wie die Eintrittskarte ins Frausein sind. Das wurde mir auch so vorgelebt von meiner Mutter und meiner Tante, die ständig abwertend über ihre Körper oder ihr Gewicht gesprochen und irgendwelche Diäten gemacht haben. Ich dachte, das mache ich auch und danach ist mein Bauch weg. Der war natürlich nicht weg. Ich hatte nur furchtbaren Durchfall von dem ganzen Obst. Ich fühlte mich aber leichter (vom Durchfall!) und deshalb dachte ich, ich muss mich bei der nächsten Diät einfach noch mehr anstrengen. Wie kommt ein Kind darauf?Das Gefühl, nicht richtig und nicht schön genug zu sein, baute sich in den Jahren davor auf. Ein prägendes Erlebnis war, als ich mit sieben mit meiner Mutter einkaufen war und unbedingt einen geblümten Volantrock haben wollte. Meine Mutter meinte, dass ich den nicht bekommen darf, weil mein Hintern dafür zu dick wäre. Das war das erste Mal, dass mir etwas verwehrt wurde aufgrund meiner Körperform. Dadurch hat sich bei mir eingeprägt, dass mein Körper nicht okay ist, wie er ist. Ich fühlte mich schuldig und suchte den Fehler bei mir. Auch wurde immer häufiger über meinen Körper gesprochen oder ich wurde ermahnt, meinen Bauch doch nicht immer so rauszustrecken. Ich war noch ein Kind. Trotzdem war für mich schnell klar, dass Mädchen und Frauen halt Diät machen müssen, um dazuzugehören und wertgeschätzt zu werden. Dabei hatte ich damals bereits eine ziemlich durchschnittliche Figur. Sie haben viele Jahre Diät gemacht, exzessiv Sport betrieben und litten auch an einer Essstörung. Ist diese Zeit für Sie nun endgültig vorbei?Eine Diät würde ich auf keinen Fall mehr machen. Aber die Muster, die lange mein Leben bestimmt haben, also meinen Wert von Äußerlichkeiten bestimmen zu lassen, treten immer wieder zutage. Die Jahrzehnte der Essstörung sind nicht gelöscht. Sind Sie manchmal wütend darüber, dass Ihnen von außen dieses Gedanken-Korsett angelegt wurde?Ja, das macht mich wütend und traurig. Das sind Lebensjahre, die weg sind. Lebensjahre, in denen ich lieber mit einem Maßband in meinem Zimmer saß, Brennnesseltee getrunken und gehofft habe, dass mein Bauch schrumpft. Schrecklich. Was hätte ich in der Zeit alles machen können? Wie gut hätte ich mich fühlen können, wenn dieses Korsett meinen Selbstwert nicht so zusammengedrückt hätte? Ich habe deshalb nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Dass mir das genommen wurde, finde ich traurig. Melodie Michelberger: "Body Politics", Rowohlt Verlag, 224 S., 18 Euro

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