Ist Prostitution systemrelevant? - Gespräch mit einer Sexarbeiterin

Kassierer sind es. Ärztinnen und Pflegepersonal sowieso. Auch die Medienbranche. Erzieherinnen und Lehrer. Viele andere. Systemrelevant. Aber Prostitution? Alice Frohnert sagt ja, Sexarbeit ist systemrelevant. "Prostitution ist eine Säule der Gesellschaft und der Menschheit wie die Polizei", sagt sie, "weil wir Menschen Triebe haben, die man nicht ausmerzen kann, die sind in unseren Genen drin". Alice Frohnert war selbst 20 Jahre lang Sexarbeiterin. Den ersten Freier befriedigt sie, als sie noch in Berlin studiert. "Das Gewerbe hat mich immer sehr fasziniert", sagt sie. Filme, Literatur und Gemälde haben sie verführt. Sie beginnt, in einem Nachtclub zu arbeiten. "Das war eine tolle Atmosphäre dort, die Leuchter, das Rot, das alles hat mich beeindruckt." Auch heute, mit 56 Jahren, habe sie noch einige wenige Stammkunden, wie sie sagt. Obwohl sie mittlerweile promoviert hat, als Autorin und freie Journalistin arbeitet. "Die Triebe sind stärker als die Angst" In der Corona-Krise habe sich die Notwendigkeit von Prostituierten noch einmal besonders gezeigt. "Die künstliche Welt ist zusammengebrochen und die Menschen waren nicht vorbereitet." Die 56-Jährige berichtet von Freiern, die "Terror gemacht" hätten, die die Frauen bedrängten, sie zu empfangen. "Die Triebe sind stärker als die Angst", sagt sie und erzählt von einem eigenen Kunden. Wie ein Säugling, der nach seinem Schnuller schreit, hätte er sich am Telefon verhalten. "Bei einem Baby kann man das verstehen, aber nicht bei einem 70-Jährigen." Frohnert blieb standhaft und hielt sich an das Arbeitsverbot. Verzweiflung und Bedürftigkeit - Dabei haben allein 2018 450.000 Paare "Ja" gesagt. Die Ehe ist nach wie vor ein Beziehungsschlager. Doch für Monogamie, sagt Frohnert, sind die Menschen gar nicht gemacht. "Ehe ist nicht artgerecht, eine Lüge." Menschen hätten viel mehr den Drang, ihr Erbgut möglichst weit zu streuen. Am Anfang sei die Ehe ein Ruheort und gemütlich. "Aber im Laufe des Jahres wird es langweilig und man hat sich nichts mehr zu sagen." "Prostitution fängt diese Männer auf", sagt Frohnert. Die Prostitution sei das Ventil, durch das diese ihre Triebe befriedigen könnten. "Sonst würde sich das anderweitig entladen, in Vergewaltigung oder Sexualmorden." Kein nettes Männerbild. Aber erklären nicht Kriminalpsychologen andauernd, dass eine Vergewaltigung nichts mit Sexualität zu tun hat, sondern mit Macht? "Es geht um Macht", bestätigt Frohnert, "und in der Prostitution geht es um Macht". "Der Job ist Ekel erregend" Sich eine Frau zu kaufen ist Macht. Von ihr sexuelle Dienstleistungen zu verlangen, die Mann zuhause nicht einmal auszusprechen wagt, ist Macht. Zu wissen, dass sie nicht ablehnen wird, weil sie das Geld braucht, ist Macht. "Der Job ist sehr hart, er ist Ekel erregend,", erklärt sie, "viele Männer sind dreckig und man muss ihnen Hygiene beibringen, ihnen erklären, das man sich waschen muss, dieses Gelbe am Penis ist eklig, das hat mein Sohn mit fünf, sechs Jahren schon gelernt". Bleibt die Frage, warum sie es tat und immer noch tut. "Es ist das Geld", sagt sie unverblümt. "Ich habe während des Studiums auch in einer Wäscherei Bügelarbeiten erledigt, aber davon kann man nicht leben." Aber auch ihre eigene Sexualität habe eine Rolle gespielt. "Ich wollte als junge Frau wirklich guten Sex, nicht so viel Fellatio." Heute resümiert sie, dass lediglich ein Prozent ihrer Kunden ihr auch gefallen habe. Fünfmal vielleicht in 20 Arbeitsjahren habe sie beim Sex auch Spaß gehabt. Trotzdem hält Alice Frohnert Prostitution für wichtig. Für systemrelevant. Bloß fehle die gesellschaftliche Anerkennung. Im Gegenteil, Sexarbeiterinnen werden diskriminiert. "Wir sind nicht die Konkurrentin für die Ehefrau, nicht die mit Geschlechtskrankheiten Infizierte, nicht die Dumme", sagt sie. Prostitution sei degradierend. "Aber nicht von Natur aus, sondern durch die Gesellschaft."

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