Jetzt geht ihr in die Bergposition, das Brustbein drückt ihr nach vorne und euer Krönchen auf dem Kopf zeigt nach oben." Vanessa Stoß machts vor, ihre Schüler und Schülerinnen ahmen es ihr nach. Wie in einer ganz normalen Yoga-Einheit, wie sie überall praktiziert wird. Doch die Stunden der Yogalehrerin sind anders. Vanessa Stoß unterrichtet Yoga auf dem Stuhl, für Menschen mit Behinderung, Menschen mit Bewegungseinschränkungen, Menschen mit Schwindel oder Menschen, die keine wilden Verrenkungen auf der Matte machen möchten.
In ihren Kursen stehen Dehn- oder Kräftigungsübungen für den Rumpf, Nackenbereich oder die Arme im Fokus. Vanessa Stoß zeigt die Übungen, die sogenannten Asanas, die Teilnehmenden machen sie nach, so gut, wie sie können und so lange, wie sie möchten. Eine Besonderheit ist außerdem der Ort, an dem Vanessa Stoß und ihre Yogis sich treffen. Während die Yogalehrerin in ihrem Zuhause im Allgäu sitzt, sind alle anderen Teilnehmenden über eine Videoschalte digital mit ihr und miteinander verbunden. Und können die Yogaübungen überall dort nachmachen, wo die Internetverbindung stabil ist und sie sich wohlfühlen.
Yoga ist kein Leistungssport, sondern soll Entspannung bringen
Inklusives Yoga für alle, das ist eine Herzensangelegenheit für Lehrerin Vanessa Stoß. „Ich möchte so viele Menschen wie möglich mit dem Yoga erreichen, egal ob sie eine Einschränkung haben oder nicht", sagt sie. Die junge Frau stört extrem, wie die indische Lehre in den Köpfen vieler Menschen verankert ist: Häufig ist auf Fotos oder in Videos zu sehen, wie schlanke junge Frauen, die extrem sportlich sind, einen Kopfstand und andere akrobatische Übungen machen.
Das ist nicht Vanessa Stoß Welt und auch nicht die Yoga-Welt, die sie ihren Teilnehmenden vermitteln möchte. „Ich selbst kann gar keinen Kopfstand", sagt sie und lacht. Stattdessen sitzen die Teilnehmenden aufrecht auf dem (Roll-)Stuhl. Häufig beginnen die Einheiten mit ruhigen Atemübungen. „Beim Einatmen geht euer Kopf nach oben und beim Ausatmen lasst ihr ihn auf das Brustbein sinken", gibt Vanessa Stoß mit ruhiger Stimme vor. Anschließend fahren die Yogis mit sanften Dehnübungen der Schultermuskulatur fort, indem der Kopf vorsichtig in Richtung Schulter geneigt wird. Um den Rumpf zu mobilisieren, kann der Oberkörper gedreht und die Arme können diagonal über den Körper gelegt werden. Vanessa Stoß ist es dabei wichtig, dass es in ihren Kursen nicht um Leistung geht, sondern sich die Teilnehmenden wohlfühlen und entspannen können.
Gesundheitliche Probleme ändern den Lebensweg
Wenn es um den Grund geht, warum sie selbst aktuell nicht fit genug für Yoga im Stehen oder auf der Matte ist, wird die junge Frau ernst. Gesundheitliche Probleme sind ausschlaggebend für ihren Lebensweg, der sich in den letzten Jahren radikal geändert hat. Alles beginnt 2018, als Vanessa Stoß immer wieder von heftigen Kopfschmerzen geplagt wird. Ihre Freundin nimmt sie damals zu einer Yoga-Stunde mit, die prompt ihre Schmerzen lindert und sie ihr bisheriges Leben überdenken lässt. „Die Einheit hat mich vollkommen fertig gemacht", berichtet sie. „Ich habe nur noch geweint." Nicht, weil es so schrecklich war. Sondern weil sie so überwältigt von ihren Gefühlen gewesen sei und sich ihr Körper so gut angefühlt habe.
Die junge Frau hat zwei Ausbildungen absolviert, arbeitete bis dahin im Einzelhandel. Doch sie merkt damals, dass sich in ihrem Leben etwas ändern muss. Sie wird Schulbegleiterin und absolviert die Yoga-Lehrer-Ausbildung. Aber sie stellt fest, dass ihr Weg noch nicht am Ende ist, sie möchte nicht eine von vielen sein. „Meine drei Jahre jüngere Schwester sitzt aufgrund einer Muskelerkrankung im Rollstuhl", erklärt sie. Die Idee kam auf, Yoga im Rollstuhl oder auf dem Stuhl anzubieten.
Corona und ein Hirntumor bremsen die Yoga-Lehrerin aus
Ein steiniger Weg, denn es gibt kaum Menschen, die Weiterbildungen in diese Richtung anbieten. Doch Vanessa Stoß gibt nicht auf, spürt die wenigen existierenden Weiterbildungen auf, nimmt an ihnen teil und erfüllt sich ihren Traum. Um Kunden zu finden, macht sie Werbung in Facebook-Gruppen für Rollstuhlfahrer sowie Selbsthilfegruppen für Muskelkranke und gibt im Jahr 2021 ihre erste Yoga-Stunde auf dem Stuhl.
Die Freude hält aber nicht lange. Im folgenden Jahr leidet sie unter einer Corona-Infektion, von der sie sich lange nicht erholt. Diagnose: Post Covid. „Ich konnte nichts mehr", sagt Vanessa Stoß. Nicht aufstehen, schon gar nicht arbeiten. Ein halbes Jahr braucht sie, um wieder etwas zu Kräften zu kommen, dann folgt der nächste Schock: Gehirntumor im Kleinhirn. Vanessa Stoß wird im Februar 2023 operiert, ist wieder monatelang außer Gefecht gesetzt. Nicht nur körperlich sind die Erkrankungen immer wieder Tiefschläge, auch emotional ist diese Zeit eine große Herausforderung.
Dankbarkeit als Antrieb
Aber die Asanas, wie vor allem ruhende Übungen im Yoga genannt werden, helfen ihr, mit allem fertig zu werden. „Ich war froh, dass ich Yoga an der Hand hatte, um mich zu beruhigen und immer wieder neue Kraft zu schöpfen", sagt sie. „Ich habe gelernt, dankbar zu sein. Dankbar für alles, was geht und was wieder geht", sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Dankbarkeit ihrer Kunden ist auch das, was die 36-Jährige antreibt. „Ich bin froh, dass ich so viele Menschen mit Yoga auf dem Stuhl glücklich machen kann."
Vanessa Stoß Stunden enden immer damit, dass die Teilnehmenden ihre beiden Handflächen aneinanderlegen und vor ihrem Herzen die Gebetshaltung einnehmen. Mit einem „Namasté" verabschiedet und bedankt sich die junge Frau dann bei allen. Anschließend wird der Bildschirm schwarz. Aber etwas bleibt: die Ruhe – und die Erkenntnis, dass Yoga dank Vanessa Stoß für alle da ist.
INFORMATION
Kontakt
Vanessa Stoß ist über ihren Instagram-Kanal @in_you_inklusives_yoga, ihre Website oder per Mail erreichbar. Aktuell bietet sie vier Kurse in der Woche an, die über die App „Kursifant" gebucht werden können. Montags findet „Du kannst Yoga" und „Ruhe finden mit sanften Bewegungen auf dem Stuhl" statt. Dienstagabends ist der Kurs „Lass los – entspannte Schultern, Nacken und Kiefer". Am Wochenende bietet Vanessa eine Frauenrunde unter dem Namen „Spüre Dich" an. Die Kosten pro Einheit liegen bei fünf bis zwölf Euro.