Ärztepräsident: "Die Lockerungen gehen nicht weit genug"

Herr Reinhardt, gehen Ihnen die Lockerungen der Corona-Maßnahmen weit genug?Klaus Reinhardt: Es ist richtig, dass Bund und Länder weiterhin vorsichtig vorgehen, doch insgesamt gehen mir die Lockerungen nicht weit genug. Besuche im Altenheim sollten wieder möglich sein, wenn Angehörige Schutzkleidung tragen. Auch die Gastronomie könnte unter bestimmten Bedingungen wieder öffnen, natürlich mit Auflagen, dass zum Beispiel nur die Hälfte der Tische belegt wird. Wir sollten den Mut haben, umsichtig noch weitere Corona-Maßnahmen zu lockern. Gehen Sie davon aus, dass durch Lockerungen die Zahl der Neuinfektionen wieder steigen wird?Reinhardt: Natürlich kann das passieren, dafür kann es aber viele Gründe geben. Wenn wir zum Beispiel die Zahl der Tests deutlich steigern, wird sich auch die Zahl der nachgewiesenen Infektionen erhöhen. Die Ansteckungsrate liegt in Deutschland aktuell nur noch bei 0,7. Anfang März lag sie noch bei drei und Anfang April bei 1,3. Damit geht die Zahl an Neuinfektionen zurück. Auch die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und der Todesfälle ist rückläufig. Das epidemiologische Geschehen beruhigt sich also. Für diese positive Entwicklung ist allerdings nicht nur der Lockdown verantwortlich. Die Maßnahmen Abstand halten, häufigeres Hände waschen und Kontaktreduzierung haben auch einen entscheidenden Beitrag geleistet. Wichtig ist, dass wir die Zahl der Neuinfektionen genau beobachten, damit wir schnell auf Veränderungen reagieren können. Maßgabe ist, dass die Krankenhäuser auch weiterhin nicht überfordert und alle Patienten angemessen versorgt werden können. Kitas bleiben geschlossen und auch Schulen starten zunächst nur für bestimmte Klassen. Ist das der richtige Weg?Reinhardt: Aus medizinischer Sicht ist es sinnvoll, dass Kitas geschlossen und junge Schüler erstmal zuhause bleiben, weil sie die aktuelle Situation und damit verbundene Einschränkungen wie Abstand halten noch nicht so gut verstehen. Hier können wir von älteren Schülern deutlich mehr Rücksicht und Vorsicht erwarten. Doch auch bei den kleineren Kindern, die ja noch nicht über virtuelle Methoden unterrichtet werden können und besonders auf den persönlichen Kontakt mit Erziehern und Lehrern angewiesen sind, brauchen wir bald eine Perspektive, die ein schrittweises Öffnen der Kitas und Grundschulen möglich macht. Erste Politiker bringen eine Verkürzung der Sommerferien ins Spiel. Ist das sinnvoll?Reinhardt: Das muss die Gesellschaft entscheiden und sollte von pädagogischen Notwendigkeiten abhängig gemacht werden. Wenn Schüler aufgrund der Corona-Pause Zeit benötigen, um Stoff nachzuholen, kann die Kürzung der Ferien sinnvoll sein. Grundsätzlich gilt für alle Bereiche, dass wir Flexibilität, Pragmatismus und guten Willen zeigen müssen. Ziel muss es sein, Risikogruppen, bei denen im Wesentlichen die schweren Verläufe zu beobachten sind, erfolgreich zu schützen. Im Übrigen gilt es, eine Abwägung zu treffen, zwischen dem möglichst kontrollierten Zulassen von Neuinfektionen, aus denen ja im besten Fall immunisierte Patienten werden, dem Vermeiden von Überforderung der Intensivkapazitäten der Krankenhäuser und den zahlreichen und sehr vielfältigen psychischen, sozialen und auch wirtschaftlichen Effekten der Maßnahmen des Lockdowns. Das Tragen eines Mundschutzes wird in Deutschland lediglich empfohlen. Reicht das aus?Reinhardt: Ja, da es keine wissenschaftlichen Belege dafür gibt, dass ein einfacher Mundschutz vor einer Ansteckung mit einer Infektionskrankheit schützt. Es gibt die plausible Annahme, dass ein Mundschutz dafür sorgt, dass ein Erkrankter weniger infektiöse Tröpfchen verteilt und dadurch andere schützt. Aber auch das ist nicht eindeutig belegt. Ich trage einen Mundschutz in Geschäften oder im öffentlichen Nahverkehr, wenn sich der Abstand zu Mitmenschen unter Umständen nur schwer einhalten lässt. Sonst nicht. Ein Mundschutz darf nicht dazu führen, dass wir keinen Abstand mehr halten und auf Hygiene verzichten. Ich warne auch davor, dass wir in Deutschland eine Kultur entwickeln, die Menschen und insbesondere Kinder vor allem als Keimträger betrachtet. Das finde ich absurd, deshalb sollten wir den Mundschutz nach der Krise auch wieder wegpacken. Experten gehen davon aus, dass es deutlich mehr Corona-Fälle in Deutschland gibt. Da sie aber nicht getestet wurden, werden sie nicht in der Statistik erfasst. Mit welchen Zahlen rechnen sie?Reinhardt: Sicher ist, dass es mehr als die erfassten 140.000 Fälle in Deutschland gibt. Viele Epidemiologen gehen von einer Dunkelziffer mit dem Faktor bis zu zehn aus. Das würde 1,4 Millionen Fälle bedeuten. Doch genau weiß das aktuell niemand. Valide Zahlen, auch zur wahren Sterblichkeitsrate, erhalten wir erst, wenn mehr Antikörpertests möglich sind und, wenn die repräsentativen Untersuchungen aus dem Kreis Heinsberg und anderen Regionen belastbar werden. Erste Kliniken starten wieder mit Behandlungen, die wegen der Krise abgesagt wurden. Ist das richtig?Reinhardt: Im Moment gibt es keinen Hinweis darauf, dass wir auf eine Überforderung der Kliniken zusteuern, deshalb können Kliniken auch das elektive Programm, also planbare Eingriffe, wieder vorsichtig etwas hochfahren. Das ist wichtig, weil auch diese Patienten mitunter schwer krank sind und mittlerweile seit vier Wochen auf ihre Operation warten. Solange ein Drittel der Intensivplätze ad hoc für Covid-19-Patienten zur Verfügung steht, sollte ausreichend Reserven vorhanden sein. Die Diskussion über ausreichende Kapazitäten ist noch immer von Angst geprägt, weil wir die furchtbaren Bilder aus Italien vor Augen haben. In Deutschland gibt es jedoch drei Mal so viele Intensivplätze bezogen auf die Bevölkerung wie in Italien. Vor der Krise wurde die hohe Zahl an Intensivplätzen in Deutschland kritisiert. Wie geht es nach der Krise mit der Umstrukturierung der Krankenhauslandschaft weiter?Reinhardt: Unser Gesundheitssystem funktioniert in der aktuellen Krise ausgesprochen gut. Das gilt für die ambulante Versorgung und auch für die Krankenhäuser. Deshalb darf es auf keinen Fall einen Abbau von Kapazitäten oder Personal geben. Im Gegenteil: Nach der Krise müssen wir dringend über eine neue Finanzierung des Systems sprechen. Wie bei der Feuerwehr muss auch in Krankenhäusern das Vorhalten von Personal, Technik und Leistung finanziert werden. Kliniken sind Einrichtungen der Daseinsfürsorge und keine Industriebetriebe. Krankenhäuser müssen dem Patienten dienen, nicht dem Profit. Das muss sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen. Standorte können zusammengelegt werden, aber die Kapazitäten müssen bleiben. Wie wichtig das ist, sehen wir in Krisenzeiten wie diesen.