Online-Handel

Selbstversuch: So einfach kommt man ohne Arztbesuch an die Pille

Lediglich ein paar Klicks und ein paar erfundene Arztgeschichten brauchte es, schon war das Päckchen zu unserer Autorin unterwegs. Wirklich schockiert hat sie allerdings ein anderer Vorgang der Bestellung.

Aus einer Liste mit Dutzenden Produkten darf sich unsere Autorin selbst "ihre" Pille aussuchen. | © Annette Riedl/dpa

Anneke Quasdorf
04.09.2023 | 05.09.2023, 09:22

Bielefeld. Einfach online Rezept und Pille ordern, das klingt zu einfach und zu illegal, um wahr zu sein. Also versuche ich es einfach mal. Unter diversen, allesamt seriös gemachten Portalen entscheide ich mich für zavamed.com. Klick auf Frauengesundheit, Klick auf Antibabypille, Klick auf Rezept anfordern und los geht's.

Lediglich ein paar Seiten eines Diagnosebogens muss ich ausfüllen, um meine Bestellung abzugeben.  Und auch das dauert nicht lange bei mir, schließlich muss ich ja nicht über  tatsächliche Werte oder Erfahrungen nachdenken.

Denn mein Ziel ist klar: Ich will das Bild einer kerngesunden Patientin ohne jegliche Risikofaktoren erwecken. Hoher Blutdruck? Ich doch nicht. Bedenkliche Erkrankungen in der Familie? Ach Quatsch. Habe ich die Pille schon mal genommen? Ja klar. Und wunderbar vertragen. Letzter Besuch beim Gynäkologen mit PAB-Abstrich? Ist schon etwas her, deshalb erfinde ich lieber ein etwas aktuelleres Datum, 5. November, das klingt schön zeitnah. Und klar habe ich mit meinem Arzt über die von mir gewünschte Verhütung gesprochen.

Gynäkologe aus Bielefeld ist entsetzt

So geht das Seite für Seite, akribisch sind alle relevanten Fragen aufgelistet, die auch der Gynäkologe stellen würde. Anders als in einer Praxis sitzt mir aber niemand gegenüber, der meine Angaben überprüft. Oder: „sich mithilfe aller Sinne und unter Einsatz der vor Ort vorhandenen apparativen Ausstattung ein unmittelbares und umfassendes Bild ihrer Patientinnen und Patienten" verschafft, wie es in Paragraph 7 der Hinweise und Erläuterungen der Bundesärztekammer zu Fernbehandlungen heißt.

Wäre ich eine übergewichtige, rauchende Bluthochdruckpatientin mit relevanten familiären Vorerkrankungen, niemand bei Zavamed würde es je erfahren. Oder vielleicht doch – wenn ich Wochen später mit einer schweren Thrombose im Krankenhaus läge und Entschädigung für die Fehlentscheidung verlangen würde. „Sofern Sie noch am Leben wären", sagt Rolf Englisch, Gynäkologe und Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Frauenärzte. Er ist fassungslos ob der laxen Ferndiagnose. „Für die Erstellung eines solchen Präparats muss ich die Patientin sehen und persönlich untersuchen. Das ist eine Vollkatastrophe."

Kunde kann sich seine Pille selbst aussuchen

Die Krönung stellt in meinen Augen aber die Auswahl des Präparates dar. Die habe erschreckenderweise nämlich ich – aus einer Liste mit Dutzenden Produkten darf ich selbst „meine" Pille aussuchen. Ich weiß nicht, welche Unterschiede es zwischen den Präparaten gibt, ob eines davon besser oder schlechter zu mir passt. Nonchalant entscheide ich mich nach zwei Minuten deshalb für „Chalant" von Hexal. Der Name gefällt mir, die Packung ist hübsch, außerdem habe ich keine Lust, weiter durchzuscrollen.

Zwei Tage später habe ich ein diskretes, braunes Päckchen im Postkasten liegen. Lediglich der Absender, eine niederländische Apotheke, verrät, dass es sich hier um eine Medikamenten-Lieferung handelt. Beim Auspacken muss ich fast lachen. Denn auf der Rechnung ist der Gesamtbetrag, 28,50 Euro, aufgeteilt: In die Kosten für das Medikament, 19,50 Euro – und einen Betrag von neun Euro. Für etwas, das die Verantwortlichen doch allen Ernstes „Sprechstunde" nennen.

KOMMENTAR DER REDAKTION


Gefährlich und verantwortungslos

Patienten vor Nebenwirkungen schützen und Medikamentenmissbrauch verhindern, das sind die wesentlichen Funktionen der Verschreibungspflicht. Eine wichtige und wirksame Barriere – die mit ein paar Klicks im Netz einfach außer Kraft gesetzt werden kann.

Ärzte, die in einem anderen Land praktizieren, in dem es keinerlei Beschränkungen für Fernbehandlungen gibt, können über die Grenzen hinaus Patienten in Deutschland „behandeln" und ihnen rezeptpflichtige Medikamente aus Hunderten Kilometern Entfernung verschreiben. Und schon ist der gesamte deutsche medizinische Kontrollapparat und Sicherheitsstandard, der genau das verbietet, wirkungs- und wertlos geworden. Damit steht sie wieder groß und breit im Raum, die Frage nach einem Verbot für den Versandhandel von verschreibungspflichtigen Medikamenten. Denn das ist die einzige Möglichkeit, wie Politik und Aufsichtsinstanzen das Schlupfloch stopfen können.

Es gibt jede Menge Bedenken gegen diesen Schritt. Und ein großes Argument dafür: die Patientensicherheit. Die im Fall von Medikamenten mit lebensgefährlichen Nebenwirkungen eben nicht Sache der Patienten sein darf.