Gesundheit

Tinnitus-Patienten hoffen auf die große Stille

Chronische Erkrankungen Teil 7: Wenn Geräusche im Ohr das Leben beeinträchtigen

Tinnitus: Viele Betroffene leiden im Verborgenen. | © dpa

Martin Fröhlich
15.03.2015 | 18.03.2015, 19:40

Bielefeld. "Ich will einfach mal meine Ruhe." Ein Satz, den jeder hin und wieder sagt. Einige aber meinen ihn bitterernst und beziehen ihn nicht auf Job oder Familie. Für Tinnitus-Patienten ist Ruhe ein schier unerreichbarer Zustand. Sie hören ein Dauergeräusch, das sie nicht los werden. Aus dem Geräusch wird mit der Zeit mehr: "Der Tinnitus ist der Schmerz des Hörens", sagt Roger Trutti, Bielefelder Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.

Bis zu 4.000 Euro für Selbsttherapie

Trutti arbeitet für die Bielefelder Tinnitus-Ambulanz, eine Einrichtung, in die viele verzweifelte Patienten ihre letzte Hoffnung setzen. Zwischen 400 und 500 kommen pro Jahr. "Die meisten haben eine Odyssee hinter sich und waren schon bei verschiedenen Ärzten, Naturheilern, Therapeuten und anderswo", sagt Trutti. Der 55-Jährige kann die Verzweiflung nachvollziehen. Zwischen 2.000 und 4.000 Euro gebe der durchschnittliche Patient für Selbsttherapie oder gar obskure Heilungsversuche aus, ehe er in die Fachabteilung kommt. "Das belegt den Leidensdruck."
Das ständige Geräusch im Ohr kann zur Qual werden. - © dpa
Das ständige Geräusch im Ohr kann zur Qual werden. | © dpa

Viele Betroffene leiden im Verborgenen. Einen Tinnitus sieht man niemandem an. Treffen kann er grundsätzlich jeden. Etliche Prominente haben ihre Erkrankung öffentlich gemacht, darunter die Musiker Eric Clapton, Sting und Lou Bega, der DJ Sven Väth, Schauspieler Keanu Reeves und Entertainerin Barbara Streisand. Manche leiden ein Jahr, andere ein ganzes Leben lang.

Bei über 90 Prozent nur eine Ursache

Doch woher kommt dieses Geräusch, das außer dem Betroffenen niemand hört? Wer sich im Internet auf die Suche begibt, wird von einer Menge möglicher Ursachen erschlagen. Mediziner Trutti aber sagt: "Tatsächlich gibt es bei mehr als 90 Prozent der Betroffenen nur eine Ursache: eine Fehl- oder Schwerhörigkeit auf einem Ohr." Die kann durch Lärmbelastung entstehen, aber auch nach einer Mittelohrentzündung, einem Hörsturz oder anderen Krankheiten.

Es reicht dabei schon, wenn ein bestimmter Frequenzbereich nicht mehr korrekt wahrgenommen wird. Als Folge versucht das Gehirn das Hördefizit auszugleichen. Es beginnt, Signale anders zu verarbeiten. Das Gehirn ist der Schlüssel: "Dort werden die Schallwellen, die das Ohr weiterreicht, interpretiert." So wie das Auge nicht sieht, sondern nur Lichtsignale weiterleitet, ist das Ohr nicht für das Hören zuständig.

Eine Reaktion des Hirns auf Fehl- oder Schwerhörigkeit kann ein Tinnitus sein. Weil das Gehirn massiven Einfluss auf den Tinnitus nimmt, wirken sich auch seelische und emotionale Faktoren wie Stress auf die Krankheit aus. "Viel hängt davon ab, wie der Betroffene das Geräusch wahrnimmt, wie viel Bedeutung er ihm beimisst", sagt Trutti.

Verschiedene Behandlungsarten

Tinnitus wird vielschichtig behandelt. Nicht allein der Ohrenarzt kümmert sich darum, sondern auch Psychotherapeuten, Akustiker und Audiotherapeuten. "Wir verfolgen immer mehrere Ansätze." Grundsätzlich gehe es darum, dem Patienten beizubringen, dass die Wertung des Geräuschs entscheidend ist. Manche sind auf ihren Tinnitus fixiert, andere lernen ihn weitgehend auszublenden. Hilfreich sind psychologische Beratung, Stressmanagement, Aufarbeitung von Konflikten, Entspannungsverfahren und Hörtraining.

Auch gegen das Hördefizit unternehmen die Experten etwas. "Hörgeräte bringen oft Fortschritte", sagt Trutti. Vorausgesetzt, der Patient ist bereit, ein solches zu tragen, was Jüngere oft zunächst ablehnen. Hört das Ohr wieder normal, kann es sein, dass das Gehirn mit der Fehlinterpretation aufhört. Es gibt auch Methoden, die Geräusche mit Geräuschen bekämpfen. Noiser erzeugen im Ohr einen Ton, der das Gehirn trainieren soll, seine Filter korrekt einzusetzen. Masker dagegen erzeugen Geräusche, die den Tinnitus verdecken.

Herzstück der Therapie sind Patientenseminare. Im "Counseling" lernt der Betroffene mit seinem Tinnitus zunächst einmal zu leben, während zeitgleich Maßnahmen anlaufen, das Geräusch auf lange Sicht zu beseitigen. Roger Truttis Erfahrung zeigt, dass der Großteil der Patienten nach den Seminaren besser klarkommt. Es gibt allerdings Fälle, die so schwerwiegend sind, dass nur ein Aufenthalt in einer Spezialklinik Abhilfe verspricht. "Das sind aber weniger als ein Prozent." Tinnitus muss kein Leiden fürs ganze Leben sein. Mit etwas Glück kehrt wieder Ruhe ein.

Wer besonders gefährdet ist

  • Als besonders anfällig für Tinnitus gelten Berufsmusiker, und zwar sowohl solche, die klassische Instrumente im Orchester spielen, als auch solche, die moderne Musik mit spektakulären Live-Shows machen. Der Zusammenhang besteht möglicherweise darin, dass Berufsmusiker ein deutlich höheres Risiko haben, an Lärmschwerhörigkeit zu erkranken.
  • Jüngste Studien belegen diese erhöhte Gefahr, unter anderem eine Arbeit des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Hörschäden liegen fast allen Tinnitus-Erkrankungen zugrunde. Deshalb ist in Musikerkreisen der Gehörschutz seit einigen Jahren in den Mittelpunkt gerückt. Dass Live-Konzerte von Rockbands laut sind, ist bekannt.
  • Doch auch Sinfonie- und Opernorchester erreichen Lautstärken bis 100 Dezibel, die etwa einer Kreissäge entsprechen. An Fortissimo-Stellen von Wagner-Opern wurden sogar 130 Dezibel gemessen. Das entspricht einer Trillerpfeife direkt am Ohr und liegt klar über der Schmerzgrenze. Die Crux beim Gehörschutz: Der Musiker will sein Gehör schützen, zugleich aber genau hören.
  • Es gibt heute aber individuell angepasste Gehörschutzsysteme. Die Palette reicht von klassischen Gehörschutzstöpseln über Kapselgehörschützer bis zu maßgefertigten Otoplastiken, die exakt an die Form des Ohres angepasst werden.