
Bielefeld. Mehr als 1.200 Bücher übers Kochen sind in den vergangenen sechs Monaten auf den deutschen Markt gekommen - eine schier unübersichtliche Menge. Eines davon ist das Schulkochbuch von Dr. Oetker. Schon wieder eins. Wir haben überprüft, was die neue Edition kann - und was nicht.
1911 geht's los mit dem Schulkochbuch. Im Zeitalter der Industrialisierung erfährt die geneigte Hausfrau, wie sie Lebensmittel zubereiten, ihre Einkäufe planen und vernünftig wirtschaften kann. Blindhuhn, Arme Ritter und Wurstbrei sind hier unter den Rezepten zu finden, also nicht unbedingt die Rezepte, die heutige Kochanfänger vor den Ofen locken würden.
1927 erscheint die nächste Ausgabe, dann schon illustriert. Die Zeiten und Geschmäcker haben sich geändert. Die Rezeptvielfalt wird größer, entsprechend des Lebensmittelangebots auf den Märkten. Und so geht's in den Folgejahren weiter. 1956 rollte nicht nur der Rock'n'Roll, sondern auch die Kalorienwelle heran. Buttercremetorte ist "in", vor allem reichhaltiges Essen kommt auf die deutschen Tische. 1963, 1976, 1992 - immer wieder wirft Dr. Oetker ein überarbeitetes Werk auf den deutschen Buchmarkt.
Immer mehr Tiefkühltruhen in den Haushalten
Ernährungsgewohnheiten und Lebensumstände verändern sich über die Jahrzehnte, der demografische Wandel sorgt für immer weniger Großfamilien, die Zahl der Singlehaushalte dagegen steigt an. Immer mehr Tiefkühltruhen in den Haushalten sowie ein Trend zu auf Reisen genossenen Speisen oder "globalen Genüssen - zwischen Retro und Etno", wie Dr. Oetker es formuliert, sorgen dafür, dass offenbar immer wieder ein neues Schulkochbuch auf den Markt muss. Dabei ist Dr. Oetker nie Trendsetter, sondern Trendnutzer.
Was also ist in 2018 passiert, dass es nötig wurde, wieder ein neues Kochbuch unters Volk zu bringen? Erst 2011 war die Juliläumsausgabe erschienen - das lässt sich natürlich kein Verlag entgehen. Aber 2018? Was sind die Trends, die unbedingt ein neues Kochbuch erfordern - neben über 1.000 anderen Kochbüchern? Wir achten mehr auf Bio-Qualität, auf Regionalität, manche mögen immer noch Superfood, andere werden oder bleiben Vegetarier, Veganer, manch einer entdeckt sogar noch Sous vide als neuen Trend. Eine Antwort gibt Dr. Oetker nicht. Der selbsternannte Klassiker bleibe "immer am Puls der Zeit und nimmt stetig neue Food-Trends und aktuelle Einflüsse mit auf".
Zeichen einer erfolgreichen Marketingstrategie
Kinder, die nicht mehr ihre Füße unter die Tische ihrer Eltern stellen und flügge werden, bekommen Kochbücher geschenkt, damit die Sprösslinge nicht verhungern. Dass darunter wahrscheinlich oft auch eines der Oetker-Kochbücher ist, ist das Ergebnis einer erfolgreichen Marketingstrategie. Seit 1911 sei das Werk mehr als 19 Millionen Mal verkauft worden, heißt es stolz von Seiten des Verlags. Den Verfasser dieser Zeilen hätte ein solches Kochbuch zu Studentenzeiten womöglich davor bewahrt, in Ermangelung eines Backofens seine Tiefkühlpizza in der Pfanne knusprig zubereiten zu wollen (Anm. d. Verf.: Nicht nachahmenswert!).
Untergliedert ist das von außen hübsch aufgemachte, aber mit 1.791 Gramm ziemlich schwere Werk in 11 Kapitel. Ein allgemeiner Ratgeber klärt zunächst über die wichtigsten Grundlagen (neudeutsch: "Basics") auf: Küchengeräte, Messer, Gewürze, Garmethoden und die Küchensprache. In der letzten Kategorie dürfte es die Freunde des "Man kann alles in Bacon einwickeln"-Credos freuen, dass ihnen dort das Bardieren erklärt wird. Jungen Leuten kann man möglicherweise fürs Kochen begeistern, wenn man ihnen zeigt, dass hier auch Begriffe wie Auslassen oder Abhängen stehen.
Im Großen und Ganzen sind wir angetan von der neuen Edition. Bei jedem Rezept, das wir getestet haben, stimmten die Zutatenmengen (jeweils für vier Portionen), oft zeigen farblich abgesetzte Boxen mögliche Beilagen zum Gericht, die daneben angegebenen Seitenzahlen erleichtern das Auffinden des Rezepts. Jedem Gericht sind außerdem Informationen über die Vorbereitungs- Zubereitungs- und Garzeit sowie Kalorienangaben beigefügt, und Foodfotografen haben für gut ausgeleuchtete Bilder gesorgt.
Was uns fehlt
Was uns jedoch fehlt, ist eine Einordnung der Schwierigkeit. Kochanfänger wagen sich vermutlich lieber an eine Lachsforelle in der Salzkruste mit Sauce Vierge, wenn sie wissen, dass das auch für sie absolut machbar ist. So aber schreckt sie das über zwei Seiten ausgebreitete Rezept möglicherweise zu sehr ab.
Was uns bei einem so altehrwürdigen Kochbuch allerdings sehr erstaunt hat, war die Zutatenliste für die Königsberger Klopse. Laut Dr. Oetker werden die aus halb Rind-, halb Schweinefleisch geformt. Richtig aber ist, dass Königsberger Klopse traditionellerweise aus Kalbshack hergestellt werden. Außerdem findet sich kein Wort über Sardellen - ohne geht's aber nicht für den Klopse-Fan! Ein Faux-pas, wie wir finden. Henriette Davidis lässt in ihrem Kochbuch-Klassiker von 1845 ("Praktisches Kochbuch für die bürgerliche und feine Küche") die Sardellen (wahlweise Salzhering) dagegen nicht unerwähnt - davon hätte Dr. Oetker 1911 ja eigentlich schon abschreiben können.
Liebgewonnen haben wir bei unseren Tests dagegen die beiden farblich zum Einband passenden Lesebändchen. Gerade für ein Hauptgericht und eine Beilage hilft das beim schnellen Vor- und Zurückfinden erheblich. Bei der Rezeptauswahl haben wir neben den Klopsen viele andere Klassiker entdeckt - auch die Armen Ritter aus dem Werk von 1911 haben es in die aktuelle Ausgabe geschafft. Für das Soulfood im Herbst und Winter sorgen Suppen und Eintöpfe sowie Chili con und sin carne - das muss man einfach drauf haben. Ist nach wie vor bestes Umzug-Essen, wird man also immer wieder brauchen. Ob Gemüse oder Fisch, ob Wildfleisch oder Dessert - hier gibt's das Allroundpaket.
Und die Trends? Sous Vide gibt's hier nicht, aber das Niedrigtemperaturgaren ist schon erfunden und wird zum Beispiel beim sogenannten "80-Grad-Lachs" erlernt. Superfood wiederum fehlt glücklicherweise - darum sollen sich auch aus unserer Sicht gerne andere kümmern. Nicht jede Trendlücke muss ein Kochbuch schließen. Das Schulkochbuch erfüllt lieber die Erwartungen an traditionelle und beliebte Gerichte und ist nach wie vor ein guter Einstieg in die Welt des Kochens. Nichts mehr, aber auch nichts weniger als das.
Dr. Oetker Schulkochbuch, 592 Seiten, gebunden, ZS Verlag München, 2018, 29,99 Euro