Leipzig. Fast jedes zweite belletristische Buch ist eine Übersetzung. Dennoch wird den Übersetzern kaum Beachtung geschenkt. Nikolaus Stingl gehört zu den bekannteren Vertretern seines Fachs. Für den Preis der Leipziger Buchmesse, der Donnerstagnachmittag verliehen wird, ist der 60-Jährige mit seiner Übertragung des monumentalen Romans "Der Tunnel" von William H. Gass nominiert. Stingl gilt in der Branche als Mann für schwere Fälle der englischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur: William Gaddis, Thomas Pynchon, Cormac McCarthy. Thomas Klingebiel sprach mit Stingl über den aktuellen Stand seines Metiers.
Herr Stingl, warum sind so viele Bücher schlecht übersetzt? Einfachste stilistische Regeln werden missachtet, Sätze weggelassen.
NIKOLAUS STINGL: Auch mir geht es gelegentlich so, dass ich denke, was mag da im Original gestanden haben. Mein Lieblingsbeispiel stammt von dem amerikanischen Krimiautor Stephen Greenleaf. Der erste Satz in der deutschen Ausgabe eines seiner Bücher lautet: "Es war der Sommer der dankbaren Toten." Erst nach mehrmaligem Nachdenken bin ich drauf gekommen, dass im Original stand: "It was the summer of the Grateful Dead." Der Übersetzer hat nicht erkannt, dass die "Grateful Dead" eine bekannte Rockband sind. Bei der sogenannten Hochliteratur ist die Qualität der Übersetzungen in den letzten Jahren aber deutlich gestiegen.
Warum nicht bei der Taschenbuch-Belletristik?
STINGL: Das hat mehrere Gründe: die Schnelligkeit, mit der da gearbeitet wird, und dass die Verlage aus Kostengründen Leute daran setzen, die nicht so gut sind. Insgesamt aber hat sich das Literaturübersetzen enorm professionalisiert. Früher war auch das mehr ein Hobby. Wenn sie alte Übersetzungen in die Hand nehmen, sticht das sofort ins Auge.
Kann man das so pauschal sagen?
STINGL: Pauschal nicht, aber es ist eine Tendenz. Schauen Sie sich alte Übersetzungen von "Moby Dick" an. Da sind nicht nur die Übersetzungen schlecht. Man hat sich auch unglaubliche Freiheiten herausgenommen. Nehmen Sie mal eine alte Hemingway-Ausgabe. Das kann man nicht mehr lesen auf Deutsch.
In einer Melville-Neuübersetzung wurde das berühmte "I would prefer not to" des Schreibers Bartleby mit "Es ist mir eigentlich nicht genehm" eingedeutscht. Da war "Ich möchte lieber nicht" von 1939 besser.
STINGL: In Einzelfällen mögen neue Übersetzungen keine Verbesserungen gebracht haben, aber insgesamt schon.
Altern Übersetzungen generell?
STINGL: Mit Sicherheit, aber es gibt auch alte oder ältere Übersetzungen, die einfach sehr gut sind. Die erste deutsche Fassung von "Einer flog über das Kuckucksnest" von Hans Hermann war ausgezeichnet. Der Roman wurde einige Jahrzehnte später noch einmal übersetzt, mit der Begründung, die vorhandene klänge nicht mehr zeitgemäß. Das war möglicherweise sogar richtig, aber der erste Übersetzer hat das eben zu einer Zeit übersetzt, als ein Wort wie "T-Shirt" - ein Beispiel von vielen - in der deutschen Sprache noch nicht eingebürgert war. Das konnte er dann auch nicht schreiben.
Bei einigen global vermarkteten Roman-Wälzern werden aus Gründen der Schnelligkeit gleich mehrere Übersetzer beauftragt. Ist das seriös?
STINGL: Das kommt darauf an. Ich übersetze selber gelegentlich mit anderen. Das sind aber nur zwei - eine Kollegin und ein Kollege. Ich kenne die beiden gut, auch ihre sprachlichen Eigenheiten, sie kennen meine. Ich würde behaupten, wenn wir zusammen übersetzt haben und dann noch mal ein Lektor drübergeht, hat niemand das Gefühl, dass das auseinander fällt.
William H. Gass "Der Tunnel", erschienen bei Rowohlt, gilt als sein Hauptwerk. Ist Ihre vielgelobte Übersetzung auch Ihr Opus magnum?
STINGL: Von den Sachen, die ich bisher gemacht habe, gehört "Der Tunnel" sicher zu den zwei, drei aufwendigsten und schwierigsten.
Bekommen Sie Reaktionen von Lesern, die penibel vergleichen und triumphierend behaupten: Hier irrt Stingl!
STINGL: Klar. Nachdem Cormac McCarthys "Die Straße" herausgekommen war, erhielt ich Post von einer aufmerksamen Leserin. In dem Roman geht es um einen Vater und seinen Sohn, die mit einem Einkaufswagen durch eine atomar oder sonstwie verwüstete Landschaft ziehen. Die Leserin wies darauf hin, dass der Mann den Einkaufswagen auf Seite 95 verliert und ihn auf Seite 135 auf einmal wieder hat. Da konnte ich nur sagen: stimmt, tut mir leid. Gerade bei Rowohlt wird inklusive der Fahnenkorrektur insgesamt sechsmal gelesen. Keiner hats gemerkt, nur die Leserin.
Vielleicht war es ein Fehler im Original?
STINGL: Nein, das war schon ich.
Nicht alles steht im Wörterbuch, und Sie können sich nicht auf jedem Gebiet und in jeder Fachsprache auskennen.
STINGL: Man kann vieles übers Internet recherchieren. Aber es ist auch gut, wenn man mit jemanden reden kann, der von dem Steckenpferd, das der Autor da gerade reitet, etwas versteht. Für die Übersetzung eines Romans von John Irving habe ich mit jemandem vom Deutschen Ringerbund geredet. Der kannte Irvings Bücher gut, weil es der einzige Schriftsteller weit und breit ist, bei dem Ringen als Sportart vorkommt.
Wenden Sie sich auch direkt an die Autoren?
STINGL: Das ist eigentlich der Regelfall, man hat ja auch immer Fragen.
Wie läuft das bei dem äußerst zurückgezogen lebenden Thomas Pynchon, der ja als eine Art Phantom des Literaturbetriebs gilt?
STINGL: Ganz hervorragend. Man richtet die Fragen per E-Mail an seine Agentin und Ehefrau und bekommt sie innerhalb kürzester Zeit ausführlichst beantwortet zurück. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen, aber die Zusammenarbeit mit ihm als Autor funktioniert hervorragend.
Häufig drehen sich Übersetzer-Debatten auch ums Geld. Werden Sie angemessen bezahlt?
STINGL: Verglichen mit dem Aufwand, den man betreibt, auch wenn ein branchenübliches hohes Honorar dafür bezahlt wird, rechnet es sich eher nicht. Aber es gibt Ansätze, das zu ändern. Grob kann man sagen, dass ich soviel verdiene wie ein Facharbeiter. Damit gehöre ich in meiner Branche eher zum oberen Spektrum.