Halle. Oscar Otte schaut fassungslos in seine Box, dort wo Trainer, Physio, Freundin Emma und weitere Freunde sitzen und ihn zuvor zum Einzug ins Halbfinale der Terra Wortmann Open geschrien haben. Halbfinale? Otte lässt einen Scheibenwischer folgen, als wolle er sagen: Das ist doch hier alles völlig verrückt. Mit 4:6, 7:6 (5), 6:4 nimmt der Kölner mit dem Russen Karen Katschanow den nächsten Topspieler aus dem Haller Rasenturnier und lässt die OWL-Arena toben.
Damit steht er in diesem Jahr zum dritten Mal unter den besten Vieren eines ATP-Turniers, wie schon in München und Stuttgart vor deutschen Publikum. Das ist kein Zufall: „Ohne die Unterstützung der Zuschauer wäre ich längst beim Turnier auf Mallorca", sagt der 28-Jährige am Mikrofon von Turniersprecher Björn Sassenroth und zeigt ein mit seinen Fingern geformtes Herz Richtung ausverkauftes Stadionrund. „Es war wieder sehr eng heute, ich hätte auch verlieren können. Habe ich aber nicht", sagt er verschmitzt. Am Samstag (14.30 Uhr/ZDF) darf er somit erneut sein Herz auf dem Haller Centre Court lassen. Die Aufgabe wird dann unverhältnismäßig schwerer: Nach Miomir Kecmanovic (ATP 30), Nikoloz Basilaschwili (ATP 25) und eben Katschanow (ATP 23) darf der Noch-Weltranglisten-51. im Traum-Halbfinale gegen den derzeit Weltbesten Daniil Medwedew ran. Im zweiten Halbfinale trifft der Australier Nick Kyrgios, der den Spanier Pablo Carreno Bust mit 6:4, 6:2 bezwang auf den Polen Hubert Hurkacz, der sich mit 7:6, 7:6 gegen Felix Auger-Aliassime (Kanada) durchsetzte.
Let's-Go-Otte-Gesänge auf den Rängen
Medwedew lässt in seinem Viertelfinalmatch beim 6:2, 6:4 gegen den Spanier Roberto Bautista Agut (ATP 20) nichts anbrennen. Der Russe folgt in diesen Tagen der Devise: „Ich will jedes Spiel gewinnen. Denn je öfter ich gewinne, umso länger bleibe ich auch die Nummer eins." Otte wird sich in der am Montag erscheinenden Weltrangliste erstmals in den Top-40 wiederfinden. Damit will sich der bescheidene Spätdurchstarter jedoch noch nicht befassen. Die Oscar-Otte-Festspiele in Halle sind schließlich noch nicht zu Ende.
Den „letzten Tropfen Energie" muss Otte für den Viertelfinal-Triumph aus sich herausholen, weil er sich von dem 4:6, 6:0, 7:6-Spektaktel gegen Basilaschwili am Vortag nicht gut erholt habe. So erklärt sich die Unruhe, die der hochgewachsene Rechtshänder in der entscheidenden Phase des ersten Durchgangs den Aufschlag- und dann auch den Satzverlust kostete. „Ich wollte die Ballwechsel kurz halten, bin dann aber zwischenzeitlich unruhig geworden. Warum, weiß ich nicht", erklärt Otte, der Mitte des zweiten Satzes aber spielerisch aufdreht und sich mental stabilisiert. Er zwingt Katschanow in den Tiebreak, den er, mutig gespielt, knapp für sich entscheidet. Die Zuschauer bringen sich und den neuen Publikumsliebling mit Let’s-go-Otte-Gesängen in Stimmung.
Stimmungsdämpfer wegen Verletzungspause
Die erhält abrupt einen Dämpfer, als sich der Umjubelte beim übernächsten Seitenwechsel – es steht 1:2 aus Ottes Sicht – auf dem Boden liegend behandeln lässt. Der Nacken-Schulter-Bereich habe schon seit Tagen Probleme gemacht, wird Otte später verraten. Die verabreichte Schmerztablette wirkt schnell, aber zunächst nicht schnell genug: Für den Gewinn des darauffolgenden Aufschlagsspiel muss Otte nervenstark einen 0:40-Rückstand wettmachen, um dann seinerseits das Match entscheidende Break zu landen. Zwar flattern ihm bei 4:6, 7:6, 5:4 und eigenem Service kurz die Nerven, zwei abgewehrte Breakchancen und zwei Netzangriffe später hat Halle jedoch seinen neuen Teufelskerl, der erstmals in seiner Karriere das Halbfinale eines ATP-Turniers der 500er Kategorie erreicht. „Vor ein paar Jahren schaute ich mir die Matches aus Halle noch im Fernsehen an – und jetzt spiele ich selbst hier auf dem Centre Court. Eigentlich unfassbar", meint Otte.
"Puzzlesteine passen jetzt zusammen"
Dabei hat dieser schon im vergangenen Jahr auf großen Bühnen die Tennis-Experten aufhorchen lassen und aus damals knappen, unglücklichen Fehlschlägen gelernt. „Ich bin älter, reifer und ein gutes Stück abgeklärter geworden", sagt er. 2021 hat er bei den French Open mit 2:0-Sätzen in der Auftaktrunde gegen Alexander Zverev geführt und die Partie genauso verloren wie das Zweitrundenspiel in Wimbledon gegen den zweimaligen Champion Andy Murray – dort nach einer 2:1-Satzführung. „Jedes Spiel auf diesem Niveau bringt dich weiter", sagt Otte, „deshalb passen die Puzzlesteine jetzt immer mehr zusammen."
Halbfinal-Gegner Daniil Medwedew kann sich noch gut an den letzten Deutschen im Turnierfeld erinnern, obwohl die beiden noch nicht gegeneinander gespielt haben: „Es war bei einem Jugendturnier in Umag. Da verlor ich 2:6, 0:6 gegen Dominic Thiem und Oscar hat den dann bezwungen. Das hat mich beeindruckt."